Wie sag ich’s meinem Kinde?

ClausAllgemein

Ein Gastbeitrag
von Reino Kropfgans

Als Claus Eurich mir das Thema als Gastbeitrag nahelegte, kam meine Zusage spontan. Doch die Materie ist komplex und die unausweichliche Konfrontation mit globalen Sackgassen, in die die kapitalistische Weltordnung uns geführt hat, lässt nicht nur mich, sondern Philosophen, Künstler, Literaten, Ökonomen oder Politiker in allen Teilen der Welt über Auswege aus dieser so hoffnungslos erscheinenden Lage nachdenken.
Die vor über 70 Jahren gängige Frage: Wie sag ich’s meinem Kinde?, betraf zunächst die peinlich berührten Eltern zu Beginn der sexuellen Revolution bei der Aufgabe, ihre Kinder schamfrei aufzuklären. Heute eröffnet man den Kids damit andere unangenehme Tatsachen. Zum Beispiel die Feststellung, dass wir Menschen unsere Existenz auf diesem schönen Planeten nicht mehr nur partial, sondern als Spezies insgesamt gefährden.

Paralyse, Fatalismus, Ignoranz und Angst sind gleichermaßen verteilt. Manche flüchten in die Gamer-Szene, der etwa 3,7 Milliarden Menschen angehören: Blockierte Köpfe in fast der Hälfte der Weltbevölkerung… Andere suchen ihr Heil in Zynismus und mentaler Betonierung, an der jedes Argument abprallt. Unserer vergangenen analogen Welt begegnen wir als Pappfiguren im „Haus der Geschichte“.

Das sich seit Jahrtausenden wiederholende Muster, einen Krieg anzuzetteln, wenn sich eine Gesellschaftsordnung „totgelaufen“ hat, ist gerade dabei, seine gnadenlose Mechanik einmal mehr vor unseren Augen zu entfalten. Und fast alle halten still. Die skrupellos agierenden Mächte des Megakapitals schaffen Fakten – vorbei an Parlamenten. Das jahrelange Corona-Regime forderte unzählige Injektions-Opfer – von keiner staatlichen Stelle erfasst.
Von den gigantischen Plastikstrudeln in den Ozeanen, der Rodung der Regenwälder, den Flüchtlingsströmen, der Überfischung der Meere, den Stürmen wollen wir gar nicht reden. Die bereits stattfindenden Angriffe von KI im Netz machen es zusehends unmöglich, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. Ihre Entwickler weisen KI das Gefährdungspotenzial von Nuklearwaffen zu.

All diese Entwicklungen gelten mittel- bis langfristig als irreversibel. Das wissen auch viele der 20-jährigen. Was können wir Alten, die wir möglicherweise vom worst case verschont bleiben, denen antworten, die uns nach unserer Verantwortung fragen?

Nun, wir sind Täter und Opfer zugleich, denn unsere Bildungssysteme waren und sind auf Wettbewerb, Statussymbole und Materialismus ausgerichtet. Das formt den Geist. Schleichend haben wir unseren Halt in uns selbst verloren, vom Glauben ganz zu schweigen. Unsere Mitwesen werden zur Ware, ebenso wie Beziehungen oder unsere kostbarste menschliche Essenz, die Liebe. Normal zu sein bedeutet, ein vorgegebenes Dasein zwischen Discounterprospekten, Kochsendungen oder Online-shopping zu führen. Wir sind entwurzelt und verteidigen ein derart sinnentleertes Leben umso verbissener. Denn wir brauchen Input! Ein Leben nur im Außen: Getäfelte Hotel-Lobby, ein Auto in Mattlack, 23 Sorten Joghurt, Tattoo vom Designer, Dubai-Schokolade, Dauerbeschallung, Protein-Shakes.

Stille ist ungefähr so beliebt wie kalte Pizza. Und doch markiert Stille den Ausgang aus diesem völlig aus dem Ruder gelaufenen Gesellschafts-Labyrinth. In der Stille finden wir vielleicht den Weg zurück und rein. Zum Urgrund, den manche von uns ahnen und den wir potenziell erreichen können. Zum reinen Sein, in dem die Gegensätze sich aufheben. Wo wir beides bewertungs- wie angstfrei betrachten: Die Freude am Leben im ewigen Jetzt ebenso wie dumpfbackige Kriegspropaganda.
Ja, das ist ein Spannungsfeld, dessen beide Pole wir in uns aufnehmen. Wir lernen, diesen Widerspruch auszuhalten. Denn die Unterscheidung unserer Weltwahrnehmung in Gegensätzen ist spätestens mit Descartes zur Blaupause westlichen Selbstverständnisses geworden. Yin und Yang als sich gegenseitig bedingende Einheit lädt dagegen zur stillen Betrachtung ein.

Wir sind evolutionär so konstruiert, dass der Neokortex eigentlich noch ein paar Millionen Jahre gebraucht hätte, um sich organisch fließend mit dem Stammhirn zu verbinden, wie Arthur Koestler bemerkte. Grundlage seiner Theorie ist der evolutionäre „Wimpernschlag“ von nur 500.000 Jahren, in denen sich das Großhirn der Hominiden „explosionsartig“ vom Stammhirn abgekoppelt hat, was in der Evolutionsgeschichte ohne Beispiel ist und Anatomen veranlasst hat, von krebsartigem Wachstum zu sprechen. Darüber hinaus beansprucht unser okzidentales Ratiohirn Dominanz und die Intuition verkümmert. „Die Welt der Dinge ist der Traum des Verstandes.“ Wer diesen Satz von Fritz Perls verstanden hat, wird Statussymbolen nur noch unterkühlt begegnen.

Wir haben, im Gegensatz zu den Indigenen, die wir die Wilden nennen, jede Balance verloren. Und auch die sind längst dabei, uns zu folgen. Doch die Chance auf Befriedung im Innen wie im Außen besteht unverändert fort, sobald wir erkennen, dass Gier und ständige Unruhe uns von uns wegführen, anstatt endlich bei uns anzukommen.
Blaise Pascals Erkenntnis gilt unverändert: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“

Leitspruch
Jedwedes blutgefügte Reich
Sinkt ein, dem Maulwurfshügel gleich.
Jedwedes lichtgeborne Wort
Wirkt durch das Dunkel fort und fort.

Oskar Loerke, 1940

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Das fotografierte Glaskunstwerk befindet sich in der St. Willehad Kirche auf Wangerooge