Mensch werden

ClausAllgemein

„Der Mensch ist ein Entwurf zu etwas,
das mehr ist als er; aber während des
letzten Äons ist es ihm auf bestürzende
Weise gelungen, weniger zu sein,
als was er gemeint ist.“

(Jean Gebser)

Das zu ändern – davon spricht Weihnacht.

Trotz endlos scheinender Wiederholungen: die mythisch verklärte Begebenheit von wundersamer Empfängnis und Geburt ist als Weihnachtsgeschichte nicht auserzählt. So lange Menschen leben, bedarf sie der Vergegenwärtigung – als Erinnerung an die Zukunft der eigenen Menschwerdung; an das Erwachen der göttlichen Wesenheit in uns.

Das in Jesus von Nazareth durchscheinende Absolute weist auf das wahre Wesen eines Menschen hin, auf eine noch weitgehend unentdeckte und unerweckte Wirklichkeit. Wesen umschreibt dabei eine Urgestalt von Wahrnehmungen, Orientierungen, Eigenschaften und Handlungen. In jedem Menschen formt sie sich in eigener Weise und einer spezifischen Melange aus. Sie ist Indikativ, Möglichkeit, und Imperativ, Aufforderung, zugleich. So wie es in den „Xenien“, jenem gemeinsamen Werk von Goethe und Schiller steht:

„Gleich sei keiner dem andern,
doch gleich sei jeder dem Höchsten.
Wie das zu machen?
Es sei jeder vollendet in sich!“


Von Vollendung zu sprechen, gebietet zwar Zurückhaltung. Zwischen der Ausprägung des Absoluten in Reinheit und dem Menschsein bleibt immer eine letzte Differenz, die eben jenem Menschlichen, Allzumenschlichen geschuldet ist. Aber Mensch Werden zielt auf Annäherungen, auf einen infiniten Prozess der Läuterung und Verfeinerung.
Worauf richtet sich der Gedanke des Werdens, welchen Maßstab setzt die Vision von Vollendung?

Nehmen wir das jesuanische Vorbild, so geht es um Klarheit aus und in Liebe. Klarheit im Empfinden, im Denken und im Tun. Dafür steht als Ausdruck die Bergpredigt. Vor allem auf Sanftmut, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Friedfertigkeit, Feindesliebe und Reinheit des Geistes weist sie hin. Heute tritt, sie erweiternd, das Lebensethos hinzu, als erkannte und praktizierte liebende Verbundenheit mit allem Sein.

Sich solchem anzunähern, gelingt selten alleine. Das sich aufmachende Ich benötigt ein Du. Dieses ist ein Spiegel, gibt gewollt oder ungewollt Hinweise zur Selbstreflexion. Eine herausragende Bedeutung kommt ihm dabei zu, wenn es Ernst nimmt, was Johann Wolfgang von Goethe in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ schreibt:

„Wenn wir die Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“

Welch außerordentliche und wunderbare Herausforderung spricht aus diesem grundpädagogischen Gedanken – gerade in dieser Zeit, die so unendlich viel Bewusstseinsentwicklung und Wachstum braucht. Keines mehr im ökonomischen Sinne, da eher das Gegenteil; aber um so mehr im Geistigen und in einem liebenden Sich-Neigen zum Leben hin.
Die potentielle Größe in einem Menschen zu erkennen und in einer Weise auf ihn zuzugehen, als strahle er sie bereits aus … hierin liegt die Meisterschaft empathischer Zuwendung. Sie trägt doppelte Früchte. Das Du mag sich selber ganz neu erkennen, erstaunt vielleicht, was in ihm gesehen und wie es behandelt wird; welchen Impuls das mit sich bringt, aufrecht zu stehen und sich im Gehen bewusst zu wandeln. Und auch wer sich so dem Mitmenschen nähert, ihm seine Würde spiegelnd, unterliegt einer verfeinernden Transformation zur Mitmenschlichkeit hin. Denn das im Anderen Gesehene wirkt auf das Ich zurück.

Weihnacht wird so zu einem aufsteigenden Prozess. Das ewige Kind in uns will werden; will sich immer wieder neu entwerfen und gestalten – hin zum Licht. Konzepte werden dabei wenig helfen können. Das bedingungslose Ja zum Sein und eine lebensdienliche Zuwendung in jedem fordernden Moment reichen. Die profanen, aber notwendigen, den Alltag entsprechend strukturierenden Elemente, kommen dem sich streckenden Menschen entgegen. In schmiegsamen Interventionen passt er sich dem Fluss des Werdens an und formt ihn dabei zugleich mit.

Niemand, der auf diesen Wegen weihnachtlich unterwegs ist, muss alleine gehen. Er wird getragen in der Energie jenes geistigen Feldes, dem alles Erwachen zugehörig ist. Und wir sprechen hier nicht nur von einem rein menschlichen Feld. Darin eingebunden sind vielmehr auch jene Kräfte, die in alter Sprache engelhaft genannt werden. Der Weihnachtsmythos ist nicht vorstellbar ohne sie, die begleiten, verkünden, fordern und herausfordern. Jedoch immer verbunden mit dem:
„Fürchtet euch nicht!“

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