Am 14. Januar 1875 wurde Albert Schweitzer in Kaysersberg im Oberelsaß geboren. Es begann ein Leben, das mit „außergewöhnlich“ nur unangemessen zu charakterisieren ist:
Begründer einer alles umfassenden Seinsethik, in deren Zentrum die „Ehrfurcht vor dem Leben“ steht; herausragender Bach-Kenner und Bach-Interpret; Mediziner und weltberühmter „Urwaldarzt“ in Lambarene; Kämpfer gegen Atomwaffen und Friedensnobelpreisträger; Pfarrer, Theologe und Leben-Jesu-Forscher; ein guter, dem Leben dienender Mensch.
Von seine Zeit weit überschreitender Bedeutung sind daneben die kulturkritischen und kulturphilosophischen Schriften, Reden und Predigten. Tief ragen sie, teilweise mehr als hundert Jahre alt, in die Gegenwart hinein. Ja, sie beleuchten die geistige Verwahrlosung und ethische Entwurzelung der Jetzt-Zeit schonungslos. Wir leben grenzüberschreitend inmitten eines „Erdrutsches“, mit dem Schweitzer den Niedergang umschrieb.
„Nun ist für alle offenbar, dass die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist. Auch was von ihr noch steht, ist nicht mehr sicher…Es ist ebenfalls auf Geröll gebaut. Der Nächste Bergrutsch kann es mitnehmen.“
Gewiss, das ist in einer anderen Zeit geschrieben, Jahrzehnte zurückliegend; und Schweitzer dürfte zutiefst erschrecken, was sich seit seinem Tode 1965 bis heute abgespielt hat und für die Zukunft andeutet. Doch seine Ursachenanalyse fiele unverändert aus, vermutlich sogar in noch deutlicheren Tönen.
Es sind vor allem der Mangel an Geistigkeit bei gleichzeitigem Gefangensein in materiellen und vergänglichen Dingen. Ablenkung und Zerstreuung beherrschen den Zeitgeist. „Die Unterhaltung, die den geringsten geistigen Aufwand erfordert, ist am angenehmsten. Nur nach dieser ist Nachfrage; nur was dieser dient, kann sich auf dem öffentlichen Markte halten.“
So gilt es eine Abkehr vom Nachdenken über Kultur zu registrieren. Ideale einer idealistischen Weltanschauung sind kraftlos geworden. Die normative Gewalt des Faktischen diktiert die Handlungsoptionen. In Institutionen und Organisationen wirkt kein kultureller, sondern ein auf das Materielle und auf Eigennutz gerichteter Geist. Deshalb kann aus ihnen kein kultureller Beitrag erwachsen, geben sie sich im Äußeren auch noch so erneuert.
„Trunken von den Fortschritten des Wissens und Könnens, die über unsere Zeit hereinbrachen, vergaßen wir, uns um den Fortschritt in der Geistigkeit des Menschen zu sorgen.“ Und so entstand eine auf Begeisterung für das Sinnlose beruhende, technikfixierte, unreflektierte Sattheit, die durchaus fröhlich daherkommt. Im Leben mag sie kein Risiko mehr sehen, sondern sie streckt sich nach Sicherheit und Bequemlichkeit. Sie beruht auf einem Freiheits- und Toleranzverständnis, das mit all jenen Verbindlichkeiten bricht, die dem Leben dienen. Zugleich wird überall da Bedrohung gewittert, wo das Wohl des Ganzen, das Wohl des Lebensraumes Erde beachtet werden möchte.
Aus dem Niedergang der Kultur gibt es, so Schweitzer, kein Heraus, bevor wir nicht auf tiefgehende Weise „irre“ daran geworden sind, uns die kulturelle Erschöpfung existentiell verletzt. Erst dann kann Neues Werden.
Im Verständnis Albert Schweitzers existiert nur dort Kultur, wo eine sittliche und das Leben bejahende Weltanschauung lebt. Das Wesen der Kultur erfüllt sich in der geistigen und ethischen Vollendung des einzelnen Menschen und der Gesellschaft. Das natürliche Verhältnis des Menschen zur Welt will zu einem geistigen erhoben werden, mit einer daraus folgenden Gesinnung und Sittlichkeit. Dann vermögen wir uns zu ermächtigen, das angerichtete Chaos wieder in Ordnung zu bringen.
Schweitzer war radikal im schönsten Sinne, indem er an die Wurzel ging und die Dinge vom Lebensquell her sah und bedachte. Und so steht das Leben selbst im Zentrum seiner Antwort, festgemacht an dem die Epochen überstrahlenden Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“. In jedem Menschen kann sie erwachen, wenn er einmal verstanden und empfunden hat, dass er Leben ist, „das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“
Die Ehrfurcht vor dem Leben also gilt für jegliches Leben genau so wie für das eigene. „Er erlebt das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern…als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen.“
Der große Geist aus Lambarene ermahnt und ermutigt, endlich denkende Wesen und damit Mensch zu werden. Denknotwendig muss Wehe und Wohl des planetaren Seins erkannt werden. Dann kann es in der Folge zu einer Verschmelzung von denkendem Erkennen und erwachender Liebe kommen. Es ist jene Liebe, die uns wie ein Lichtstrahl aus der Unendlichkeit berührt und uns in eine dem Leben dienende Zuwendung leitet. Als bloß sentimentale Regung verbleibt sie normalerweise bei sich selbst, unfähig zur grenzenlosen Erweiterung, nach der die Erdzeitstunde so dringlich ruft.
In einer Rede im Oktober 1952 in Paris formulierte Schweitzer: „Die Welt ist das Entsetzliche in der Herrlichkeit, das Absurde im Verständlichen, das Leiden in der Freude.“
Dieser nüchterne Realismus weist uns auf die Zerrissenheit menschlicher Seinsweise, die Beheimatung in einer fast unaushaltbaren Spannung hin. Darin gibt es kein Überleben, das den Namen verdient, ohne den Orientierung schenkenden Nordstern des Ethos und den daraus gefertigten Kompass lebensdienlicher Sittlichkeit. Es ist auch nach dem großen Geist von Lambarene wahrlich keine Selbstverständlichkeit und mit keiner Sicherheit verbunden, diesen Kampf fortwährend aufzunehmen und erfolgreich zu bestreiten. Doch was auch geschehe, etwas bleibt:
„Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit,
andere Menschen zu beeinflussen,
es ist die einzige.“
Für den vorliegenden Blog-Text herangezogene Werke von Albert Schweitzer:
Aus meinen Leben und Denken
Kulturphilosophie I und II
Wir Epigonen
Das Buch der Albert-Schweitzer-Zitate (Einhard Weber)
Hinweis auf meinen kleinen Band über Albert Schweitzer:
„Radikale Liebe. Die Lebensethik Albert Schweitzers – Hoffnung für Mensch und Erde.“ Petersberg (Via Nova), 117 Seiten
Foto: Deutsches Albert-Schweitzer-Zentrum
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In diesem Jubiläumsjahr finden einige Veranstaltungen statt, die ich mit Freundinnen und Freunden in Kassel, Oldenburg und Ilmenau organisiert habe. Betrachtungen zu Albert Schweitzers aktueller Bedeutung, verbunden mit Orgelkonzerten und Text-Lesungen. Nähere Hinweise unter „Veranstaltungen“ auf dieser Seite bzw. dem Veranstaltungskalender des Deutschen Albert-Schweitzer-Zentrums.
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