Liebe ist analog

ClausAllgemein

Auf dem Weg zu Tochter und Enkeln fuhr ich die letzte Strecke auf einer Anwohnerstraße, die allerdings mit breitem Bürgersteig ausgestattet ist. Mitten auf der Straße lief eine sehr junge Mutter, den Säuglings-Kinderwagen mit der rechten Hand schiebend, mit der linken ein Smartphone haltend, in das sie hochkonzentriert blickte. In den Ohren Kopfhörerbuchsen. Sie hörte mich nicht kommen. Dem nach unten abgewinkelten Kopf wäre vermutlich auch ein von vorne anbrausender münsterländer Trecker entgangen. ‚Der sollte man das Kind abnehmen‘, dachte ich in erstem Unverständnis, verbunden mit einem leisen Anklang von Wut. Um dann an der inneren Nachfrage zu scheitern: Wohin denn das Kleine geben? Bei einer Generation, die ihre Identitätsapparaturen, auf Vibrationsalarm gestellt, in der Gesäßtasche trägt – wenn die Sinne gerade einmal nicht davon eingesogen werden, um in den hinter dem Lichtschein sich öffnenden Dimensionen wegzutauchen. Die Frage, wie man das denn nenne, was die junge Mutter mit ihrem Neugeborenen verbindet, mochte ich mir nicht stellen.

Die zwei Ringeltauben, die gerade, während ich das schreibe, im winterlichen Frühnebel auf dem First des Nachbarhauses einen an Eleganz grenzenden Balztanz vollführen, sind sich direkt gegenüber in abgestimmter Körperlichkeit. Geht er zwei Schritte vorwärts und neigt sein Köpfchen zu Boden, das Hinterteil hebend, die Federn spreizend, geht sie zwei Schritte zurück, zu Folgebewegungen einladend. Man ist ganz aufeinander ausgerichtet, bis sie wegfliegt, er unmittelbar folgend; zwei Minuten später wieder auf dem Ast vor meinem Fenster sitzend, diesmal angeschmiegt nebeneinander, als flüstere die eine der anderen ihre Zuneigung ins Ohr. Ob sie beieinander bleiben werden in ihrer analogen Welt?

Jahresanfang 2025. Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung lese ich von Andrian Kreye Gedanken zur Frage, ob die Gegenwart bereits die Zukunft überholt hat. Er macht das u.a. fest an „Willow“, einem von Google entwickelten Chip, der „mithilfe von Quantencomputing in fünf Minuten eine Rechenaufgabe gelöst hatte, für die …ein Supercomputer der Gegenwart, zehn Quadrillionen Jahre gebraucht hätte.“ Zur Erinnerung: Eine Quadrillion hat 24 Nullen, 10 hoch 24. Kein Mensch kann sich davon eine Vorstellung machen. Nach dem bekannten deutschen Informatiker Hartmut Neven, der bei Google über Quantencomputer forscht, war Willows Rechenleistung nur möglich, weil er Kapazitäten aus Paralleluniversen angezapft hat.

Nun scheint mir die Frage müßig, ob die Gegenwart die Zukunft überholt hat. Denn Zukunft, das liegt in ihrem Wesen, kennen wir nicht, haben lediglich eine Vorstellung davon, die zumeist aus Wünschen, Erwartungen und Befürchtungen resultiert. Wenn also ein solcher Quantensprung jegliches lineares Denken, nicht nur in Algebra und Informatik in Frage stellt, ja pulverisiert, sagt das demnach weniger über Zukunft aus als über eine verkannte und nicht hinlänglich verstandene Gegenwart. Eine Gegenwart, die wir zumeist, unseren Erfahrungen, Gewohnheiten und Vertrautheiten folgend, sukzessive denkend wahrnehmen bzw. uns einbilden; in der schlichten eindimensionalen Vorstellung beheimatet, einem Universum anzugehören, das gleichwohl doch mindestens ein Multiversum ist.

Darin bewusst und verstehend zu leben, sind wir allerdings nicht ausgelegt, weder kognitiv, noch emotional. Solches mag der nächsten Evolutionsstufe vorbehalten sein, für die es noch keinen Namen gibt. Der Homo Sapiens Digitalis wird es auf jeden Fall nicht sein; denn er folgt noch ganz den alten linearen Regeln, hat „lediglich“ den Humanismus des Unmittelbaren hinter sich gelassen, durch Degradierung seiner selbst zum Anhängsel einer technischen Infrastruktur. Ich bezweifle also, dass die Menschheit, von wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen, die multiversale Zukunft selbstbewusst und selbstbestimmt erreichen kann. Hat sie sich doch einer wesentlichen Eigenschaft im Sog der digitalen Welten berauben lassen: dem undogmatischen, wilden Denken und jener Phantasie, die lineare Regeln bricht.

Solche unberechenbaren Weltbildungsmöglichkeiten werden also in großem Maßstab das Privileg der neuen Maschinen sein. Sie sind keine bloßen Werkzeuge mehr und auch nicht nur Denkzeuge, sondern multidimensionale fließende Strukturen bzw. Prozesse – jenseits eines alten Lebensverständnisses. Die enorme Energie, die diese Prozesse benötigen, werden sie sich selber beschaffen und in der Folge auch das globale Energiemanagement der menschlichen Kontrolle entziehen.

Die vernetzte elektronische Datenwelt jedenfalls, deren zu langsamen Aufbau heute Staat, Industrie und Nerds noch beklagen, als ginge es um die Rettung des Abendlandes, wird uns bald vorkommen wie der Commodore 64 aus dem Jahr 1982, verglichen mit einem aktuellen Forschungsrechner. Auch wenn ich von alldem vermutlich noch nicht annäherungsweise genug verstehe – es sollte wenigstens reichen, um die Frage nach der Zukunft von Kommunikation, von Mit-Menschlichkeit und von dem zu stellen, was mit dem Begriff „Liebe“ nicht sonderlich präzise umschrieben scheint.
All dieses lebt und offenbart sich ja in einem ganz eigenen Universum, unfassbar weit von Willows Welt entfernt. Es ist geistig und organisch zugleich; es benötigt keine externe Energie, misst nicht in Geschwindigkeit und Effizienz. Seine Währung heißt Zu-Neigung, Hinwendung, Berührung, Präsenz. Es zu betreten bzw. gar in ihm zu leben, wird allerdings nicht mehr selbstverständlich sein. Es erfordert eine Entscheidung, die aus der Grundeinsicht resultiert: Mensch, recht verstanden, und die in ihm lebende Liebesfähigkeit sind analog – genau wie Glaube, Hoffnung und die Botschaft der Mystik.

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