Uneigennützig, opferbereit, bedingungslos und vergebend sei die sich als christlich verstehende Liebe. In der Nächstenliebe findet sie ihren stärksten Ausdruck – gerade auch den Schwachen, in Not geratenen, Ausgestoßenen und den Feinden gegenüber. Sie schließt die Selbstliebe mit ein und gründet sich in einer alles umfassenden Gottesliebe. Durch nichts lässt diese Liebe sich irritieren, wie Paulus im 1. Korintherbrief, dem sogenannten Hohelied der Liebe schreibt: „caritas non irritatur“. Entsprechend begründende Gleichnisse Jesu sind etwa die vom barmherzigen Samariter und vom verlorenen Sohn, aber auch die Geschichte von der Ehebrecherin. So weit das Ideal…
In den Irritationen des jeweils gegebenen Gegenwärtigen erscheint solche Liebe allerdings selbst irritierend. Ihr ist etwas Fremdes beigegeben, manchmal Verlorenes, angesichts der so oft erbarmungslosen Kraft des sogenannten Faktischen und nur daran sich orientierender Interessen.
Gewiss, so mag man sagen, sei dies doch schon immer so gewesen. Hier die religiösen und geistigen Vorstellungen und Visionen und dort das nüchterne, das Edle so oft verachtende bzw. negierende alltägliche Geschäft. Doch nur, weil etwas schon immer so war, ist dies wahrlich kein Grund, es zu akzeptieren bzw. ihm gar eine überzeitliche Selbstverständlichkeit zuzugestehen.
Nehmen wir also das Ideal der Liebe einmal beim Wort. Was heißt es in Zeiten des Krieges und gewaltiger Umbrüche? Wie weit reicht seine orientierende Macht? Vor allem aber, beschränkt es sich nur auf jeweils immer das, was gerade geschieht und wie ein offenes Buch vor uns liegt? Oder reicht die Liebe weit über uns hinaus in das unbekannte Reich der Kommenden? Sind sie mitgedacht und mitempfunden? Nicht nur als Menschen und Menschheit, sondern als Leben an sich inmitten der Gaben von Mutter Erde?
Liebe stammt aus dem Urquell von Sein und Werden. Sie ist aller Schöpfung immanent. Sie richtet sich entsprechend auf das Lebensdienliche, den Schutz des Lebens in all seinen Facetten. Die Bewahrung von Lebensbedingungen für die Kommenden inmitten der Zuwendung zum Gegenwärtigen steht in ihrem Zentrum. Dieses Gut muss als unvergleichlich höher betrachtet werden als eine Verteidigung politisch/gesellschaftlicher Vorstellungen, die hinter dem Banner von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand über unzählige Leichen geht und über die Zerstörung großer Regionen incl. der Vernichtung nichtmenschlichen Lebens.
Die daraus erwachsenden Konsequenzen spalten die Meinungslager im politischen Raum bis hin zur Unversöhnlichkeit. Wir haben es mit einem Dilemma zu tun, das je nach der Priorisierung von Werten unauflösbar scheint und Ent-Scheidung einfordert. Die Argumente, was etwa den Ukrainekrieg, den Terror und die folgende Massenvernichtung im Nahen Osten betrifft, sind bekannt. Welche Perspektiven spielen dabei eine Rolle?
Betrachten wir die von Aggressoren, die Länder überfallen bzw. riesige Flächen und Lebensräume dem Erdboden gleichmachen, so haben hier Versuche ethischer oder gar lebensdienlicher Begründungen nichts zu suchen. Der Begriff dafür lautet Barbarei.
Setze ich äußere Freiheit und territoriale Integrität absolut, incl. einer Verteidigung um jeden Preis, so liegt das in der Logik eines modernen Staatsverständnisses. Allerdings handelt es sich um eine Werteorientierung zweiter oder dritter Ordnung. Sie ist anthropozentrisch, schert sich nicht um Land und Natur und tierisches Leben, ja tritt selbst dem menschlichen Leben mit letztendlicher Verachtung gegenüber, wie das in jedem Krieg der Fall ist.
Nehme ich die Überzeugung absolut, dass Frieden nur durch Frieden zu erreichen und zu bewahren ist und keinerlei bewaffnete Auseinandersetzungen, so folgt das zwar dem höchsten Gut. Es muss aber mit großer Wahrscheinlichkeit einkalkuliert werden, dass das Barbarei genannte Aggressionspotential einer Seite sich ständig neue Opfer sucht, um Besitz und Einflussbereiche auszudehnen. Spätestens hier folgt der dann fast unwidersprochen bleibende konditionierte Reflex, Gewalt mit Gegengewalt zu stoppen und sich friedensstark zu machen, indem man „kriegstüchtig“ wird.
Verzweifelt blickst du dich dann um und suchst nach den Resten dessen, was Liebe genannt war. Was bleibt, wenn man dem Drang nicht widersteht, um eines politischen Ideals willen genau das in Kämpfen zu zerstören, was man doch eigentlich schützen will?
Ernst zu nehmende Liebe für das Morgen kann demgegenüber durchaus ein Hinnehmen in der Gegenwart bedeuten, damit nicht all das der Auslöschung anheim gegeben wird, worauf ein Morgen bauen könnte.
In diese Richtung argumentiert der große Humanist und Europäer, Erasmus von Rotterdam. In seiner Schrift: »Querela Pacis« (Klage des Friedens) 1517, formuliert er:
„Kaum kann je ein Friede so ungerecht sein, dass er nicht besser wäre als selbst der gerechteste Krieg.“
So spricht ins Pragmatische geführte Liebe. So spricht jene Klarheit, die weiß, dass jegliche äußere Gewalt die innere Freiheit nicht tangieren kann. So spricht die Gewissheit, dass jedes auf Gewalt sich stützende System zur gegebenen Zeit auch wieder an seiner eigenen Brutalität und Lebensfeindlichkeit scheitern wird.
Wie auch immer…
Da die in Konflikte direkt und indirekt eingebundenen Parteien mit ihren innersystemischen Tunnelblicken unfähig sind, den archaischen Reflex von Gewalt und Gegengewalt bzw. von ‚Auge um Auge…‘ hinter sich zu lassen, geht das historische „Schicksal“ manchmal sonderbare Wege. So ist zu beobachten, dass es mit nicht zu ignorierender, auch militärischer Macht ausgestattete narzisstische Hauptdarsteller des weltpolitischen Theaters gleichsam in Dienst stellt. Sie diskutieren nicht in Endlosschleifen. Sie trumpeln auf alten Gewissheiten und Verbindlichkeiten herum. Sie nehmen auf keinerlei Empfindlichkeiten und keine Interessen, die nicht die eigenen sind, Rücksicht. Sie durchschlagen den gordischen Knoten. Sie schaffen neue Fakten mit grundlegend veränderten neuen Ausgangsbedingungen. Dem Töten und Vernichten wird dies möglicherweise vorerst ein Ende bereiten. Und das wäre wahrlich nicht wenig. Aber da es aus kalter Rationalität und nicht aus Liebe geboren ist, mögen Zweifel an der Nachhaltigkeit angebracht sein. Wenig spricht dafür, dass die neuen Bedingungen als Chance gesehen werden, sich neu und geschwisterlich zu begegnen. Käme das doch einem evolutionären Wunder gleich. Gemeint ist jenes hart zu erarbeitende Wunder, dessen wir so dringlich bedürfen, um eine Überlebenschance zu haben. Es wäre das Wunder, das kurz vor der Tür liegt, hinter der die Liebe wartet, die vom Morgen her gedacht ist.
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