Schwester Einsamkeit

ClausAllgemein

Schwester Einsamkeit

Den Weg zum Werden, das Aufbrechen, gehen wir nicht alleine. Zwar werden Begegnungen in gleicher Feldstärke und in gleicher Seelentiefe seltener, doch umso kostbarer sind die, die verbleiben und sich neu ergeben. Und umso wichtiger wird das Ausschau-Halten nach denen, die gleichfalls in der Spur der Ermöglichung und Verwirklichung wandeln. Im gemeinsamen Gehen erschließen sich tiefste Potentiale. Die gegenseitige Offenheit für die Bewusstseinsfelder des Du schafft ein Meta-Bewusstsein, das in der Vereinzelung unerreichbar ist. Es ist jenes Bewusstsein, das nicht nur die Erkenntnisqualität steigert, sondern auch vor dem Absturz bewahrt, wenn die Radikalisierung der Seinsanfragen unvermeidlich in das Gefühl tiefer Einsamkeit zieht. Diese wohl verlässlichste Vertraute, die Einsamkeit, gestattet kein Ausweichen und kein Fliehen. Sie holt den Weltenwanderer, den Gottsucher und den Revoltierenden immer wieder ein. Sie umgibt ihn wie jene Dunkelheit, die durchstanden werden will in Erwartung des gleichfalls sicheren Sonnenaufgangs.

So wie die Ohnmacht und das Scheitern wurde in den abendländischen Machbarkeits- und Ablenkungskulturen auch die Einsamkeit stigmatisiert. Doch die Einsamkeit, von der ich hier spreche, resultiert nicht aus selbstgewählter Isolation, Kontaktverweigerung oder psychisch-sozialen Blockaden. Sie liegt am Weg des Aufbruchs, und sie dient der Reinigung von alten Denk-, Erlebens- und Handlungsmustern. In ihr bereitet sich das Neue vor.

Das von uns als krisenhaft wahrgenommene Einsamkeitsempfinden bedarf der Selbstreflexion und der Einkehr in Stille. Es ist wie die Suche nach einem Pfad im Verborgenen. Antoine de Saint-Exupéry, der Vater des kleinen Prinzen, versinnbildlicht in der Umschreibung eines Wüstenerlebnisses diese Erfahrung:

„Ich entsinne mich eines Tages, da ich mich im unwegsamen Hochland verirrt hatte. Es schien mir süß, inmitten der Meinen zu sterben, als ich wieder menschliche Spuren fand. Doch nichts unterschied die Landschaft von einer anderen, außer der schwachen Spur im Sande, halb verwischt vom Winde. Und alles war verwandelt.“

Das Durchwandern der Einsamkeit, ihre Annahme als liebende Schwester, gleicht einer Einübung ins Sterben und in die Auferstehung zugleich. Man kann sie verstehen als Übung der Demut, geboren aus der Einsicht in unsere Endlichkeit, und zugleich die vertrauende Zuversicht, dass Dunkelheit nicht gleichzusetzen ist mit dem Verschwinden des Lichts, sondern lediglich mit seinem vorübergehenden Rückzug aus unserer direkten Wahrnehmung. Sie bewahrt in dem Respekt vor unseren Grenzen und dem Verweis auf das uns übersteigende Göttliche davor, in die Falle der Hybris zu laufen, die suggerieren möchte, wir selbst seien uns der letzte Maßstab. Sie hält in der Demut. Und sie nährt die Flamme der Sehnsucht.

Wenn Sie meinen Blog abonnieren möchten, klicken Sie bitte hier.