Das rechte Maß und die Liebe

ClausAllgemein

Man kann den Zustand von Mensch und Erde in dieser Epoche durchaus umschreiben als: Verlust von Maß und Mitte. Unmäßigkeit nährt die Wurzelkraft des Kapitalismus.
Grenzen zu verletzen, scheint dem Wesen des Menschen seit jeher beigegeben. Deshalb taucht die Suche nach dem rechten Maß auch in der Lehre der kardinalen Tugenden seit Platon als die vierte und letzte auf. Für unsere Zeit, in der sich in allen Lebensbereichen nun die Folgen angestauter Maßlosigkeit drastisch zeigen, hat sie entsprechend eine alles überragende Bedeutung.

Die Schöpfungswirklichkeit verfügt in ihrem Grundsatz über das angemessene Maß in allen Begebenheiten und Wesenheiten. Symbiotisch ruhen die Lebensprozesse in sich, entwickeln sich im Ausgleich von Geben und Nehmen. Erst das Wirken des Menschen mit dem Ruf nach Immer Mehr haben das Sein und Werden in ein Ungleichgewicht gezogen.

Nicht nur in religiösen Zusammenhängen und den entsprechenden Bezugnahmen dient Maß als Synonym für Mäßigung. Und diese wiederum trägt den Beiklang des Verneinenden. Schränke dich ein, verzichte, gib dich nicht deinen Gelüsten hin. Doch das rechte Maß zu finden, hat wenig mit einer blassgesichtigen Kultur des sich Versagens zu tun. Es bringt vielmehr all das zum Leuchten, welchem im Überfluss, genau wie im Geiz, eigentlich keinerlei Wert mehr zukommt. Es bewahrt die Wertschätzung und die Freude an und über etwas, beschert ihm die Aufmerksamkeit für sein Eigensein. Kinder, die an ihren Festtagen überschüttet werden mit Dingen und Events, die man dann auch noch Geschenke nennt, können eine Wertschätzung des Besonderen genauso wenig entwickeln wie eine Kultur, in der das Haben den wesentlichen Existenz- und Identifikationsgrundsatz darstellt.

Das rechte Maß zielt auf Überschaubarkeit. Es hält in der Handlungsfähigkeit. Wo es nimmt, gleicht es auch aus. Diese Tugend ist somit eine Ordnungskraft, unabdingbar für des Menschen Weg zu der ihm möglichen Vollgestalt. Für Hildegard von Bingen war sie die „Mutter aller Tugenden“. Dies gilt für jeden Einzelnen von uns und gleichermaßen für Kultur und Menschheit an sich.

Das Lebensparadigma des Albert Schweitzer, dass wir Leben sind, das leben will, inmitten von Leben, das gleichfalls leben will, bringt das Verständnis des rechten Maßes auf den Punkt und in die damit gegebene Anforderung.

Zum Maß gehört das Abstand nehmen vom Sog der Dinge, um ein freies Erkennen und tieferes Verstehen zu ermöglichen. Der Abstand rückt Werte und entsprechende Orientierungen aus der Vogelperspektive zurecht. Er bewahrt vor einer Entwurzelung des Selbst, indem er es wieder zu sich und seiner Mitte führt. Und er entkleidet damit die verführerischen Ding- und Glitzerwelten als fragile Fassaden, hinter denen das Nichts bzw. die Leere zuhause sind.

Der Anspruch eines Seins im rechten Maß setzt innere Klarheit voraus, die allerdings immer wieder erkämpft werden will in der Abwehr bzw. Überwindung dessen, was wir Acedia nennen; gemeint ist damit jene Trägheit des Geistes, in welcher der Mensch sich von Dingen und Bedürfnissen treiben lässt und sich seine größten Möglichkeiten fahrlässig versagt. Sie galt einmal als die siebte und letzte der sogenannten Todsünden. In ihren langfristigen Wirkungen ist sie die Schrecklichste.

Als einen beweglichen Punkt zwischen Übermaß und Mangel läßt sich das rechte Maß umschreiben. Es liegt wohl nie genau in der Mitte zwischen Beiden, sondern wird von den Anforderungen der jeweiligen Situation bestimmt. So betont Thomas von Aquin, dass etwa das rechte Maß für die Tapferkeit näher an der Tollkühnheit als an der Feigheit liegen sollte. Wir sind also aufgerufen, Maß nicht als ein billiges Mittelmaß fehl zu verstehen, das uns von Entscheidungen in Klarheit fernhält.

Was heißt das nun in der Gegenwart und nahen Zukunft, wenn eines Tages die pandemische Ruhe wieder dem Alltag weicht?
Es steht zu vermuten, dass oberstes Ziel von herrschender Politik, Ökonomie und Finanzsystem dann selbstredend die Rettung der alten Strukturen bleibt, die ja auch ihre materiellen und ideellen Privilegien sichern. So wie diesbezüglich Illusionen hinsichtlich einer nun heilsamen Zuwendung zum rechten Maß fehl am Platze wären, sind sie es genauso, was die blinde Genussorientierung so unendlich vieler Menschen zwischen Kreuzfahrt, Billigflug, Shopping als Lebenssinn und vernichtendem Missbrauch der Tier- und Pflanzenweltwelt anbelangt.

Also Resignation? Mitnichten! Aber wieder einmal geht es zunächst um die Besinnung auf das Eigene, den eigenen konsequenten Weg und das Eigenvertrauen. Nur das steht in der eigenen Verfügung.
Und es bleibt die Erinnerung daran, dass es etwas gibt, dem wir uns in diesem Bemühen um das rechte Maß und eine entsprechende Selbstachtung in völliger Maßlosigkeit hingeben können: Die Liebe zum Leben und das Hören ihrer Stimme in jeder Situation.

In der Liebe zu bleiben,
bedeutet Einlaß zu finden
in den Bezirk,
wo alle Dinge eins sind.
(Meister Eckhart)

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