Vier: Einfachheit

ClausAllgemein

Sinnfragen könnten sich in einer Kultur, die auf Wohlstand, relativ sicherer Versorgung und einem weitgehend stabilen politischen System beruht, anders stellen als dort, wo der tägliche Kampf ums Leben und Überleben den Alltag bestimmt. Wo also durch die weitgehende Befriedigung der Grundbedürfnisse geistiger Raum wäre für die wesentlichen Fragen des Seins, dominiert gleichwohl die Macht des Materialismus. Sie reicht bis tief in die Sehnsuchtsregungen des Menschen und sein Streben hinein. In dem, was du hast und was du in der Gesellschaft und in den Augen anderer bist, erkennst du dich wieder. Daran misst du dich zu wesentlichen Teilen und bestimmst, ob es gut so ist oder ob dir etwas fehlt. Die Sedierung durch das allenthalbe mediale und digitale Rauschen tut ihr übriges.
 
Die herrschende Ökonomie versteht es, die Suchbewegungen des Menschen vom unbedingten und zeitlosen Gut hin zum bedingten und austauschbaren zu bewegen. Denn hängt das Herz erst einmal am Ding, kann es beliebig manipuliert werden. Den Neid und das Begehren durch Konsum stillen und beide immer wieder neu entfachen, werden eins. Moralische Gesetze und Appelle, die um des Ganzen willen auf Vernunft und Mäßigung zielen, erscheinen dann schnell als Gängelei und Unterdrückung.
Unter der Regentschaft von Maßlosigkeit und Übersättigung haben die zarten Rufe des Lebens kaum eine Chance, in das Bewusstsein zu dringen. Vor allem verschwindet die Frage aus dem Horizont, wohin wir als Mensch und als Kultur wirklich wollen.

Einfachheit wird hier zur Schlüsselorientierung. Sie repräsentiert kein asketisches Verzichtsideal, will nicht an der Schönheit und der Ästhetik des Seins sparen. Vielmehr steht sie für das angemessene Maß in allen Dingen. Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit treten an die Stelle der Jagd nach immer mehr.
Einfachheit öffnet den Raum für die Besinnung auf das Wesentliche. Die Lebensimpulse auf den verschiedenen Seinsebenen bewegen dann den Menschen und nicht die Verdinglichungen, nicht die austauschbare Medien- und Warenästhetik und nicht die Magie des Geldes. Auf das zu verzichten, was es zu einem Leben in Würde nicht braucht, befreit. Und diese Befreiung benötigt wenig Voraussetzungen. Wer sie wirklich sucht, kann sie in jeder Lebenssituation, jeder Lebensphase und auf jedem sozialen und  kulturellen Niveau erringen.

Einfachheit ist eine Lebenshaltung, und sie lässt sich entsprechend nicht abstrakt und von außen bestimmen, sondern immer nur konkret persönlich, entsprechend der jeweiligen Lebensbedingungen, erspüren.
Und doch ist dieser persönliche Spielraum kein Attest für Beliebigkeit. Nehmen wir das Beispiel Geld. Es zu haben, ist kein Makel. Aber seine wesentliche Aufgabe liegt darin, lebensdienlich zu wirken und nicht Ausbeutungsprozesse bei Mensch und Natur zu unterstützen. Denn genau das geschieht, wenn ich Kapital um seiner puren Vermehrung willen anhäufe und dem Todeskreislauf des Großbankensystems anvertraue.

Einfachheit steht in Beziehung zu Bescheidenheit, ja, ich möchte mit einem alten Begriff sagen, Vornehmheit. Epikur von Samos (341 – 271 v. Chr.) weist uns darauf hin, dass wer Vornehmheit in ihrer Beziehung zur Einfachheit oder Schlichtheit des Lebens nicht beachtet, „ähnliches erleidet wie jener, der in die Grenzenlosigkeit des Genusses verfällt.“

Als Haltung unserem Leben und dem Sein an sich gegenüber, hat Einfachheit auch eine innere Seite. Der frühere UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905-1961), ein Mensch, den wir wohl einen modernen Mystiker nennen dürfen, hat kurz vor seinem gewaltsamen Tod dazu folgendes in sein Tagebuch geschrieben:

„Einfachheit heißt, die Wirklichkeit nicht in Beziehung auf uns zu erleben, sondern in ihrer heiligen Unabhängigkeit.
Einfachheit heißt, sehen, urteilen und handeln von dem Punkte her,
in welchem wir in uns selber ruhen.
Wie vieles fällt da weg!
Und wie fällt alles andere in die rechte Lage!
Im Zentrum unseres Wesens ruhend begegnen wir einer Welt,
in der alles auf gleiche Weise in sich ruht.
Dadurch wird der Baum zu einem Mysterium, die Wolke zu einer Offenbarung und der Mensch zu einem Kosmos, dessen Reichtum sich uns nie ganz enthüllt.
Für den Einfachen ist das Leben einfach, aber es öffnet ein Buch,
in welchem wir nie über die ersten Buchstaben hinauskommen.“

Solches einfach Sein hält uns in der Würde. Es beugt vor, zu einem Spielball äußerer Interessen zu verkommen. Es bewahrt uns in unserem tiefen Wesen. Hand in Hand gehen Einfachheit und Freude. Und beide sagen Ja, in ihrem gelegentlich unbefangenen Staunen über den Zauber der Schöpfung.


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