Kerzenschein des Lebens

ClausAllgemein

Es mag sein, dass es ohne Theologie, heute, nach etwa 2000 Jahren, keine christliche Religion mehr gäbe, keine Pfarrer, keine Sakramente, keine Zusammenführung von Glaube, Vernunft und rationalem Diskurs. Dann gäbe es wohl auch keine Gemeinden mehr, keine Klöster, keine Orden. Ja, vielleicht wäre all das sogar niemals geworden in einer Welt, die maßgeblich durch das Denken konstruiert wird. Der Platz der Theologie im Universum des Christentums soll also nicht gemindert oder gar in Frage gestellt werden, genauso wenig wie die gigantischen Geisteswelten, die sie schuf. Doch in diesen Welten kann man sich leicht verirren, manchmal verlieren, ja man kann sogar das Leben (aus dem Blick) verlieren, wenn der Geist sich verselbständigt, in immer weitere Nebenwege und Deutungstiefen hinein.

Durch Theologie läuft die Religion Gefahr, zu einer mehr oder weniger abstrakten Denkangelegenheit, zu einem intellektuellen System zu werden. Dieses ist weitgehend hermetisch in sich abgeschlossen und rückt damit bedenklich nahe an das, was Ideologie genannt wird. Solche, sich selbst bestätigende Denksysteme sind zudem weitgehend abgeschottet gegenüber den Wahrnehmungsweisen und zugleich Erkenntniszugängen von Gefühl, Intuition und Kontemplation, die wir neben dem klaren Geist als Fundamente des Glaubens sehen können. So ist es wohl auch kein Zufall, dass diese drei im Studium der Theologie und in der Ausbildung von Priestern, Pastorinnen und Pastoren so gut wie keine Rolle spielen. Und entsprechend ist das, was sich „Gottesdienst“ nennt, zumeist voller Worte. Die tiefe Stille hat keinen festen Platz, sowenig wie die Empfindungen, die in einem berührten Herzen entstehen.

Christus hinterließ nichts Schriftliches. Er entwarf keine Theologie. Er lehrte überzeitliche Grundwerte auf der Basis der hebräischen Bibel. Er bestimmte die Beziehung zwischen Gott und Mensch aus eigener Erfahrung. Er gab Zeugnis durch das gelebte Beispiel. Zur Verdeutlichung seiner Lehre vom Himmel und von der Erde sprach er in Gleichnissen, machte seine Glaubensbasis und sein eigenes Leben in Geschichten erfahrbar. Vor seinen Worten und zeichenhaften Handlungen suchte er die Stille auf. Er war Zeuge, Ausdruck, Gestalt und Prophet der Religion.

Religion, religio, meint Rückbindung an den Grund aller Dinge, an die allem zugrunde liegende Dimension, an den Ausgangspunkt von Werden und Vergehen, an den Pulsschlag des Seins.
Der Tempel, in dem diese Religion lebt und sich entfalten kann, liegt im Menschen selbst, in seinem inneren Raum. So ist sie immer bei ihm, und deshalb ist er immer in der Religion, wenn seine Sehnsucht ihn zieht und sein Bewusstsein danach strebt. Dann wird das Leben an sich zur religiösen Praxis, zu einem immerwährenden Gebet. Gott erfahren, meint in dieser Hinsicht, sich der Wirklichkeit der Welt zu stellen und die Verbindung von Innen und Außen zu (er)leben.

Was wir Gott nennen, existiert inwendig im Menschen und durchströmt zugleich die Welt. Es lebt nicht abgegrenzt in Tempeln aus Stein – auch wenn wir dort seine Nähe oft unmittelbarer erfahren können. Denn für diese Erfahrung sind sie aus Gottessehnsucht gebaut und stützen diese Sehnsucht in jenem Menschen, der sie betritt und in Resonanz geht. Von der Grundfrage des Religiösen her kommend, gilt es jedoch im Bewusstsein zu halten,  dass heilig nicht Stein, nicht Bild, nicht Reliquie sind. Heilig ist das Leben, wie auch Albert Schweitzer, weit über den Menschen hinausweisend, immer betonte.

Das Leben ist das Sakrament des Göttlichen. Alles was lebt, will sich entfalten. Die ganze Schöpfung bedarf, gerade in diesen zerstörerischen Zeiten, deshalb der liebevollen und pflegenden Zuwendung. Das ist wahrer Gottesdienst. Religion wächst damit über das Innen des Menschen hinaus in eine lebensdienliche Haltung und Praxis. Die Praxis ist es auch, die zur Vergewisserung der Innenraumorientierungen führt.
Jeder Weg eines jeden Menschen, ist dabei einzig. Der Religionsphilosoph Martin Buber schrieb diese Geschichte aus dem jüdischen Chassidismus auf:
„Als ein Rabbi seinen berühmten Lehrer, den Seher von Lublin, bittet, er möge ihm einen ‚allgemeinen Weg zum Dienste Gottes‘ zeigen, bekommt er zur Antwort: ‚Es geht nicht an, dem Menschen zu sagen, welchen Weg er gehen soll. Denn da ist ein Weg zu dienen durch Lehre, und da, durch Gebet, da, durch Fasten, und da, durch Essen. Jedermann soll wohl achten, zu welchem Weg ihn sein Herz zieht, und dann soll er sich diesen mit ganzer Kraft erwählen.‘ “

Mit ganzer Kraft…das ist nicht leicht daher gesagt. Denn darum geht es in der Religion, und das unterscheidet sie von manchen Lebensauffassungen und Lebenskonzepten. Diese Kraft, gleichwohl, schwingt immer in einer Bewegung zwischen Innen und Außen, hält sich mal da länger auf und mal dort. Ihr Quell jedoch ist tief in unserem Innern. Hierhin können wir jederzeit zurückfinden, wenn wir im Außen scheitern oder die Kraft zum Handeln nachlässt, wir schwächer werden. Und das ist dann kein Rückzug vom Außen. Vielmehr wächst es gleichsam in unser Innen hinein, und wir wenden uns ihm nun mit geistiger Energie zu, als Kerzenschein des Lebens.

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