Kairos-Zeit

ClausAllgemein

Unser Heimatuniversum kennt keinen Jahresbeginn und kein Jahresende. Es zählt keine Tage, misst der Zeit keine Besonderheit bei. Still ruht das Sonnensystem in sich selbst. In ewigem Rhythmus umkreisen die Planeten ihr strahlendes Zentrum.
Es ist eine erhabene Bewegung, wie aus aller zeitlichen Vorstellung genommen.

Erst der Mensch, im Erschrecken über seine und den äußeren Dingen innewohnende Endlichkeit erschuf den Gedanken von Anfang und Ende.
Er benannte Jahre nach der Dauer eines Erdenlaufs um die Sonne, strukturierte Jahre, Mondzeiten und Tage in Kalendern und feierte irgendwann einen von ihm festgesetzten Abschluss, Übergang und Neubeginn. Seit 153 v. Chr. ist dies in unserem Kulturkreis der 31. Dezember. Er wurde später nach Papst Sylvester dem I. benannt, der am 31.Dezember des Jahres 335 in Rom verstarb.

Das sich als begrenzt erkennende Leben fordert inmitten des unendlichen Stroms eines nach unsichtbaren Mustern fließenden Universums Orientierungspunkte, um nicht selber in Zeit- und Unterschiedslosigkeit zu zerfließen. Das menschliche Bewusstsein findet so Halt und öffnet in sich Zeitenräume, die zum Innehalten und zur Reflektion einladen. Von hier aus betrachtet, werden Veränderungen sichtbar und Vergleiche möglich. Geschichte erhält ein Gesicht. Die Kategorie Zukunft ermöglicht die Dimension von Wunsch und Wandel in einen unvorhersehbaren Raum hinein. So werden Zeit und Zeitpunkte zu unverzichtbaren Zutaten für die Konstruktion der menschlichen Identität, und zwar sowohl gattungsbezogen als auch kulturell und personal.

Als Aion, Chronos und Kairos unterteilte und unterschied man in der hellenistischen Antike die Zeit. Diesem Dreiklang ist auch heute nichts hinzuzufügen.

Einen Zeitbogen, mit einem Beginn und einem Abschluss, umschreibt Aion. Von der Gründung Roms, der Legende nach durch Romulus und Remus, bis zum Niedergang  mit der Absetzung des weströmischen Kaisers Romulus Augustulus im Jahr 476, dauerte etwa der Aion des Imperium Romanum. Heilsgeschichtlich stellt das Erscheinen des Erlösers auf Erden bis zu seiner Wiederkehr am Ende aller Tage den ultimativen Aion dar.
Chronos steht für die dahinfließende, quantitative und messbare Zeit. So macht den Sinn einer Sekunde aus, die vorherige abzulösen, und während sie dies tut, stirbt sie selber. Im Letzten ist alles gleich­­­_gültig. Keine Qualität ragt heraus. Chronos ist der Zeitfresser, so wie sein Namensgeber, die griechische Gottheit, die aus Eifersucht ihre eigenen Kinder verschlang. Durch die List der Mutter aber überlebte eines, Zeus, die spätere oberste Gottheit der olympischen Götterwelt. Dessen jüngstes Kind wiederum trägt den Namen Kairos.
Dieser jugendliche, sich immer in Bewegung befindliche Gott, verkörpert qualitative Zeit, den besonderen Moment, der potentiell alles enthält. In ihm erfüllt sich Geschichte – im Großen wie im Kleinen, vorausgesetzt, der Mensch erkennt und spürt den Hauch der Wandlung und Vollendung.

Sylvester können wir als den Archetyp des kairologischen Zeitfensters sehen. An sich, aus übergeordneter Perspektive, ist es nicht der Erwähnung wert. Die Zeit fließt einfach weiter, schert sich nicht um Sekt, Sentimentalität und Böller. Doch der Mensch macht etwas Besonderes daraus, indem er den öde dahinfließenden Zeitenstrom unterbricht. Er setzt sich ein Zeit-Zeichen. In der Zuspitzung auf den Moment des Jahreswechsels schafft er eine radikalisierte Schnittstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Gelungenes, Gescheitertes, Unvollendetes im Rückraum des Seins will betrachtet und verabschiedet werden. Erhofftem, Ersehntem, auf Vollendung, ja Erlösung Wartendem öffnet sich die Zukunft. Nein, sie öffnet sich nicht nur, sie bricht ein, bricht in uns ein als Bewusstwerdung einer ja eigentlich immer vorhandenen und nahezu unbegrenzten Potentialität. Und mehr noch: Wenn unsere Sinne es zulassen, spüren wir, wie das Ewige das Zeitliche berührt, Immanenz und Transzendenz, Himmel und Erde verschmelzen.

Und so soll es ruhig böllern in jenem Moment und die Glocken mögen laut klingen. Hauptsache, sie erwecken aus der Lethargie, erschüttern den trägen Geist und erinnern daran, dass jetzt, ab jetzt, alles möglich ist, wenn wir es wollen und es nicht zu bloßen Vorsätzen gefrieren lassen. Was geht, ist zuallererst immer eine Frage des Bewusstseins, in Verbindung mit dem, was tätige Hoffnung genannt wird.

Sylvester, so verstanden, meint dann:

Jetzt ist Deine Zeit,
jetzt brich auf,
auch wenn Du Deine Gelübde
schon tausendmal gebrochen hast.
Dann kommt Dir das Schicksal mit offenen Armen entgegen.  

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