Daedalus – Meister, Mahner, Antiheld

ClausAllgemein

Jahrtausende wandelte Daedalus nun schon in wechselnden Rollen und Kostümen durch das Universum der menschlichen Entwicklung. Er registrierte wohl, dass man begonnen hatte, ihn als Inkarnation der Weisheit zu verehren, als Mahner im ewigen Kampf zwischen Demut und Vermessenheit, zwischen Fortschrittsdrang und Genügsamkeit.
Gewiss, so kann man Züge seines Wesens beschreiben. Wäre da nicht dieser düstere Schatten, der zugleich auf seiner Person lastete, nämlich gemordet zu haben, zerfressen von Neid und Eifersucht. Daedalus hatte sich deshalb selber nie als einen Helden der Geschichte gesehen. Vielmehr, so gesteht er sich nun, vielleicht dreitausend Jahre, nachdem alles begonnen hatte, ein, auf ein beschädigtes Leben zu blicken.

Von „daidala“, einem fein und kunstvoll gearbeiteten Gegenstand, leitete sich sein Name ab. Er stieg auf zum größten Handwerker, Architekt und Bildhauer von Athen. Man erzählte sich, dass er für alles eine technische Lösung finde. Das machte ihn stolz, zu stolz. Und so wuchs der Neid mit, der sich gegen alles regte, was drohte, besser zu sein als er. So wie Talos, Sohn seiner Schwester, der als hochbegabter Lehrling bei ihm arbeitete und der unter anderem Kompass und Säge erfand. Besessen von Wut über dessen Kunstfertigkeit und Erfolg, schleuderte Daedalus Talos vom Dach des Athene-Tempels auf der Akropolis in den Tod.
Mit seinem Sohn Ikarus aus Athen verbannt, trat er schließlich in den Dienst von Minos, dem König Kretas. Ihm entwarf er ein unentrinnbares Labyrinth, das der Bändigung des schrecklichen Minotaurus, einem Hybrid aus Stier und Mensch dienen sollte. Weil er ihn zweimal hintergangen hatte und auch, dass niemals das Geheimnis des Labyrinths gelüftet werde, verurteilte Minos ihn jedoch zur Gefangenschaft auf Kreta. Ein Daedalus aber fügt sich nicht in solches Schicksal.

„Mag er mir die Erde und die Wellen versperren, der Himmel ist mir sicher offen. Hier wollen wir fliehen! Minos mag gar vieles besitzen, aber die Luft besitzt er nicht!“
 
Aus Federn, Fäden und Wachs baute Daedalus für sich und den geliebten Sohn Flugapparate, um dem Gefängnis zu entkommen. Wieder eine technische und künstlerische Meisterleistung. Dann die Ermahnung an den jungen, ungestümen, sehnsüchtigen Ikarus: „Komm den Wellen nicht zu nahe, sonst wird Feuchtigkeit die Flügel beschweren. Und bleib fern der Sonne, damit das Wachs nicht schmilzt.“
Ikarus vernahm die Worte, doch sein Wunsch, sich von den Zwängen der Gesetze der Sterblichen zu befreien und seine Unbekümmertheit, waren stärker. So kam er dem Licht zu nahe.
Seiner Schwester hatte er den Sohn genommen; sie brachte sich vor Kummer um. Nun verlor Daedalus sein eigenes Kind.

In diesem Moment wurde ihm die mächtige, symbolhafte und überzeitliche Bedeutung des Geschehens, in das er verstrickt war, bewusst. Er, der Meister technischer Errungenschaften, legt das Fundament, damit menschlicher Drang sich der Verwirklichung des Unmöglichen immer weiter nähern konnte. Auch wenn die Menschen es nicht so benannten: Gott wollten sie sein, keine Barrieren mehr spüren, sich frei ausleben, geblendet von der eigenen gedankenlosen Hybris.

Nachdem er seinen Sohn auf einer Insel beerdigt hatte, der man später den Namen Ikaria gab, zog Daedalus weiter nach Sizilien. Man sagt, dort sei er irgendwann gestorben, zumindest verlieren sich dort seine Spuren. Doch nun begann erst seine eigentliche Reise. Er durchstreifte die Kulturen, beobachtete, wie die Menschen ein Naturgesetz nach dem anderen überwanden. Sie hatten Apparate nicht nur zum Fliegen, sie erkundeten den Grund der Meere, brachen in das nahe Universum auf, manipulierten das Menschsein selber, bauten finale Waffen mit der Kapazität, das Leben auf dem Planeten mehrfach zu vernichten. Sie überschritten jede Grenze, zerstörten jede Unschuld, beuteten Mutter Erde gnadenlos aus, setzten sich selber an die Stelle dessen, was man einstmals den Schöpfer nannte.
Daedalus mahnte Demut an, wo immer ihm sich Gelegenheit bot. Er rief nach Genügsamkeit und wies hin auf die drastischen Folgen des rasenden Tuns. Man respektierte ihn, wenn auch innerlich lächelnd über diesen alten Mann, der wie aus der Zeit gefallen und dem „Fortschritt“ ein Fremdwort schien. Die Menschheit war, dies trat Daedalus immer drastischer vor Augen, zur kollektiven Gestalt des Ikarus geworden, ihr Sturz nur noch eine Frage der Zeit.

Nach dem Tode seines Sohnes und einer langen Zeit der Trauer hatte Daedalus es sich abgewöhnt, die Dinge sentimental zu betrachten. Besorgt und mahnend zwar, doch in nüchterner Grundhaltung, war er Zeuge des Geschehens, das sich vollziehen musste, weil der rechte Weg willentlich und wissentlich verlassen worden war; so wie damals bei seinem Ikarus im Kretischen Meer. Zu weit, schon viel zu weit hatte sich der Flug von der Vernunft entfernt, als dass noch irgendein Ruf wahrgenommen werden konnte; selbst wenn man ihn hätte hören wollen.
Während Daedalus diesen Gedanken nachhing, ging die Sonne langsam unter. Er nahm es wahr als ein Bild für den Zustand der Menschheit. Wie, fragte er sich, wird sie sich jemals mit dem Leben versöhnen können… Dabei hatte sie doch alles gehabt, sogar die Chance, den Himmel zu berühren. Es fehlte nur das rechte Maß.

Illustration: Jan Rieckhoff, Hamburg
https://www.illurieckhoff.de/

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