Ehrfurcht vor dem Tier

ClausAllgemein

„Nichts wird die Chance auf ein Überleben auf der Erde so steigern wie der Schritt zur vegetarischen Ernährung.“ (Albert Einstein)

Es scheint außer Frage zu stehen, dass man in späteren Generationen mit vielschichtigem Unverständnis auf die Tatsache sehen wird, dass noch im 21. Jahrhundert Menschen Tiere schöpfungsverachtend hielten und behandelten, nur um sie für ihre Bedürfnisse zu töten und gar zu verzehren.
Die verheerenden ökologischen und auf das Klima bezogenen Konsequenzen des Fleischkonsums und auch die damit einhergehende ethisch-moralische Verrohung sollen hier nicht thematisiert werden; ist dies doch alles wohlbekannt. Vielmehr möchte ich an weit zurückreichende Traditionen und Gedanken erinnern, in denen das Tierwohl und die Würde des Tieres bereits eine Selbstverständlichkeit im Denken und in der Orientierung waren.

In der abendländischen Kultur tief verwurzelt ist die Praxis, dass der Mensch für die Beurteilung von Lebewesen sich selbst zum Maßstab ernennt. Andere Lebensformen erhalten mit der Bescheinigung ihrer Andersartigkeit dann zugleich den Stempel minderwertig und dem Homo Sapiens nicht ebenbürtig. Dass es auch anders geht, wissen wir nicht erst seit der grandiosen Lebensethik Albert Schweitzers und dem Selbstverständnis Johann Wolfgang von Goethes in seinem Faust: „Du lehrst mich meine Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.“
Bis in die Anfänge der Philosophie und auch der Religionen reichen die Spuren.

In gleichsam religiösem Duktus treten einzelne griechisch-römische Denker für die Ehrfurcht vor den Tieren ein. Pythagoras (ca. 560-480 v.Chr.) befürwortete schon allein aufgrund des Seelenwanderungsglaubens das vegetarische Leben, das ebenso von Empedokles (ca. 483-425) und Xenokrates (ca. 399-314) proklamiert wurde. Theophrast (ca. 372-288) verwirft das Töten unschädlicher Tiere und bezeichnet ihre Opferung als unfromm. Ähnlich argumentiert in der römischen Kaiserzeit Plutarch (ca. 46-120): „Für ein kleines Stücklein Fleisch nehmen wir den Tieren die Seele sowie Sonnenlicht und Lebenszeit, wozu sie doch entstanden und von Natur aus da sind. Welche Mahlzeit, für die ein beseeltes Wesen getötet wird, kommt nicht teuer zu stehen? Betrachten wir denn die Seele als geringen Preis?“ Auch Plotin (ca. 205-270) vertrat dieses Denken. Sein Schüler Porphyrios (ca.234-301/305) legte mit seinem vier Bände umfassenden Werk „Über die Entfaltung von Beseeltem“ ein Standardwerk vor, das die Tierschonung und den Fleischverzicht sowohl aus spirituellen Gründen (Lösung von dem nichtgeistigen/sinnlichen, Betonung der Reinheit) als auch um der Tiere selbst willen herausstellte.

Im verkirchlichten Christentum spielen Tiere als Mitgeschwister der Schöpfung praktisch und theologisch keine Rolle. Die Gotteskindschaft des Menschen und sein Selbstverständnis als „Krone der Schöpfung“ dulden nichts neben, sondern nur etwas unter ihm. Doch es gibt Ausnahmen, die für ein besonderes Verhältnis zu den Tieren stehen, incl. vegetarischer Ernährung. Dazu gehören neben Franziskus von Assisi (1181/82-1226) einige bedeutende christliche Persönlichkeiten. Clemens von Alexandrien (um 150-215), Tertullian (ca.150-ca. 220), Origenes (185-253/54), Antonius der Große (251-356), Eusebius (260/64-339/40), Basilius der Große (um 330-379), Hieronymus (347-420), Johannes Chrysostomos (349-407), Bonifatius (um 673-754/55), und in der heutigen Zeit Mutter Theresa (1910-1997) seien exemplarisch genannt. Diesbezügliche, oft an das griechische Denken anknüpfenden Überlegungen, gerieten allerdings spätestens durch die Scholastik und die Schriften des Albertus Magnus (ca. 1200-1280) und des Thomas von Aquin (1224-1274) ins Abseits. Das betrifft auch Johannes Scotus Eriugena (9. Jahrhundert), der die Unsterblichkeit der Tiere und ihrer immateriellen Seele proklamierte.

Sieht man von den strengen Speisevorschriften, was den Verzehr koscheren Fleisches betrifft, ab, so ähnelt das Verhältnis des Judentums zum Tier dem des Christentums. Gleichwohl sei daran erinnert, dass im ersten Buch Mose auf vegetarische Ernährung abgezielt wird: „Ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise.“(1,29)

Sofern eine generalisierte Aussage sich überhaupt vertreten lässt, kann die Stellung des Tieres im Islam durch zweierlei charakterisiert werden. Es genießt, wie die Schöpfung insgesamt, hohe Achtung und Respekt. Zugleich ist es dem Menschen klar unter- und seinem Nutzen zugeordnet – und zwar als Kleidung, Speise, Schmuck und Fortbewegungsmittel. Nach muslimischer Exegese stehen auch die Tiere beim jüngsten Gericht auf. Dass „der Bauch nicht zum Friedhof der Tiere werden“ soll – dieser Satz stammt von Mohammed, der sich nach Überlieferungen vegetarisch ernährte.

Ehrfurcht vor dem Leben durchzieht die buddhistische Seins-Ethik. Sie erhebt die Tiere zu Lebensgeschwistern. In den divergenten Lehren und buddhistischen Verständnissen bildet das Nichttöten und Nichtschädigen von Tieren ein zentrales und übergreifendes Wesenselement. Es setzt sich im Ansinnen der Gewaltlosigkeit  (ahimsa) gegenüber allen Kreaturen fort. Dass in der Lebenspraxis zwischen die Idee und die Wirklichkeit sicher immer wieder ein Schatten fällt, wird gleichwohl nicht überraschen.

Die Hochschätzung der Tiere im Hinduismus beruht auf der erkannten Ähnlichkeit von Tier und Mensch. Beide haben ihren festen Platz im Rahmen der göttlichen Weltordnung, ja werden als Wesensbestandteil der höchsten Gottheit gesehen. Gewiss, im Laufe der Jahrtausende mag es in der Lebenspraxis Auf- und Abweichungen gegeben haben, vornehmlich unter den Nicht-Mönchen. Die vegetarische Ernährung ist im hinduistischen Kulturraum dennoch als selbstverständlich anerkannt und weit verbreitet. Mahatma Gandhi bringt das entsprechende Selbstverständnis auf den Punkt:

„Die Größe einer Nation kann man nicht daran ermessen, wie viel sie besitzt, sondern wie sie ihre Tiere behandelt.“

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