Gewissheit in der Schwebe

ClausAllgemein

Wie wir die Welt sehen, das Kommen und Gehen der Dinge, das Werden und  Verwehen, liegt in der Eingebundenheit oder gar Verfangenheit in die Systeme und Lebenswelten begründet, die uns umgeben. Das schließt jene medialen Botschaften ein, denen wir uns aussetzen und die wir in unsere Lebenswelthorizonte integrieren. Entsprechende Erfahrungen, Sozialisation und Gewohnheiten prägen in der Folge den Blick auf die Welt, genau wie die sich daraus ergebenden Erwartungen, Urteile, Hoffnungen und Ängste. Jeder Mensch lebt in einer solchen Konstruktion. Mal stellt sie sich dar wie ein Puppenstubenhorizont, provinziell bis zur Unerträglichkeit; mal zieht sie unverrückbare kulturelle Koordinaten; mal ist sie weit und fließend. In jedem Falle jedoch folgen Wahrnehmung und darauf bezogene Schlussfolgerungen der inneren Logik meines persönlichen Universums und Lebensweltgebildes.

Damit kann man sich bescheiden, selbstzufrieden eingenistet oder auch ewig darüber nörgelnd, wie schlimm und ungerecht doch alles ist. Beide, selbstredend mit reichlich Zwischentönen ausgestattete Lebenshaltungen geben sich mit einer Weltdeutung zufrieden, in der Bereitschaft und der innere Impuls fehlen, über sich hinaus zu schauen und aus einer konträren oder widerborstigen Perspektive das Nah- und Ferngeschehen zu betrachten. Doch dieses ist Voraussetzung für ein tieferes Verstehen. Multiperspektivität, die eigenen Vorlieben der Wahrnehmung erweiternd, brechend und überschreitend, stellt die notwendige sachbezogene und emotionale Distanz her. Gegenläufig zu denken, den Widerspruch zu wagen, öffnet Optionsräume, die andeuten, was auch sein könnte, was jenseits des gerade Ablaufenden in unserem Verfügungsbereich läge.

Die eminente Herausforderung besteht darin, das Universum des Widerspruchs auch wider alle Erwartungen und wider das eigene Erfahrungswissen zuzulassen. Das an sich Undenkbare möchte sich auf die unvoreingenommene Probe gestellt sehen. Auf Hass mit Zuwendung zu reagieren, auf Gewalt mit Kommunikation, auf die Untat mit einem Prozess der Versöhnung gehört zu Solchem. Zum Überleben werden wir es brauchen, zur Häutung der Kainsgestalt in uns, zum Abbruch perspektivloser Geschichte. Ohne den mitreisenden Widerspruch sehen wir in den Stürmen des Hindurch kein Land am Horizont, sondern kreisen nur immer wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück.

Der Widerspruch bewegt die geistige und kulturelle Evolution. Er zeigt, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, sich als unsicher, nicht eindeutig und unberechenbar darstellt.
Es gibt so gut wie keine Aussage und keinen Satz, die nicht ihr Gegenteil, ihren Widerspruch in sich trügen. Nach Wahrheit zu streben, kann deshalb nichts anderes meinen als zu lernen, Widersprüche als Teil und aufgehoben in einer Wirklichkeit zu sehen, die größer ist als die unserer eigenen Weltbildkonstruktion. Unbedachtes Streben nach Eindeutigkeit führt zu Vereinfachungen, Blindheiten und schablonenhaftem Denken. Auf der Suche nach Antworten wartet die Kunst, Dinge in der Schwebe zu halten und genau darin ein hohes Gut zu sehen, anstatt voreilig Gewissheiten zu konstatieren. So bleibt die Vielfalt im Spiel und damit etwas, das den Reichtum des Lebens und der Kultur ausmacht.

Widerspruchstoleranz hält aus. Und das meint mehr, als lediglich passiv zu tolerieren. Es steht der aktiven Auseinandersetzung mit Unterschieden und Differenzen nicht entgegen. Im Gegenteil! Entscheidend ist die Weise des Ringens und des Klärens und damit verbunden die Bereitschaft Standpunkte zu riskieren. Es geht um jene Selbstsicherheit, die sich im Loslassen findet und bestätigt; die sich getragen sieht in einem nie endenden Lern- und Erneuerungsprozess.

Die sozialisierte Welt- und Lebensweltperspektive ist das eine; Integration des Widerspruchs und Multiperspektivität treten hinzu. Vollendung beginnt allerdings erst, wenn der Mensch sich in eine Metaperspektive hineinbewegt, in eine übergeordnete, evolutionäre, ja zeitlose Schau dessen, was wir als Bewegungen auf der Erde wahrnehmen. Dieser unverfangene, aus kontemplativer Weltzuwendung geborene Blick, stellt die wesenhaften Bezüge und Relativitäten klar. Er abstrahiert auch von mir selber und meinen Bedürfnissen, fügt sich in das Größere ein und wird genährt aus dem Fluss des Seins an sich. Er lehrt zudem, die Dinge in der Schwebe zu halten und damit uns selber in einer größeren inneren Freiheit.
Die Metaperspektive als alltägliche Wahrnehmungspraxis fällt uns normalerweise nicht zu. Sie will durch all unsere Eingebundenheiten, Verfangenheiten und Inanspruchnahmen hindurch ersehnt und errungen sein. Es ist der wunderbare Kampf darum, in einem tieferen Sinne erwachsen zu werden.

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