Achtsamkeit ist zu einer Schlüsselmetapher der Gegenwart geworden. Vieles wurde über sie gesagt, geschrieben; Achtsamkeitsschulen haben sich gegründet. Als eine spezifische Form von Aufmerksamkeit markiert sie eine besondere Qualität des menschlichen Bewusstseins – mental und körperlich.
Geistes-Gegenwart, Unmittelbarkeit und Präsenz umschreiben sie genau so wie Bedacht-Sein in allem, was wir tun. Ein Mensch in achtsamer Haltung ist ausgerichtet, zentriert. Vorschnelle Urteile und Wertungen versagt er sich. In Achtsamkeit zu sein, ermöglicht die weitgehend vorurteilsfreie Registrierung dessen, was der Moment an inneren und äußeren Erfahrungen bereit hält. Ich werde Eins mit dem Moment, bin die Regung des Seins, die in meine Wahrnehmung tritt.
Bedacht öffne ich eine Tür, nehme Licht, Farben, Geräusche und Gerüche wahr.
Ich betrete einen sakralen Raum. Behutsam verneige ich mich.
Der Schritt gemessen. Die Körperhaltung aufrecht. Der Atem tief und frei.
Es ist, wie es ist.
Im Idealfall meint Achtsamkeit Beides: Bewusste Übung und alltäglichen Vollzug. Dies gilt auch für die banalsten Dinge. Immer wieder wird man daran scheitern. Doch das ist völlig ohne Belang. Als entscheidend gilt die Bereitschaft, im nächsten Moment die Übung wieder zu beginnen.
Achtsamkeit ohne Wertehorizont und ohne geistig-ethische Haltung mutiert potentiell zu einem Verhängnis. Es lässt entsprechend stoisch geschulte Manager ihren Götzendienst am Kapitalismus noch gelassener und gerichteter betreiben, Kamikaze-Flieger, wie historisch belegt, ihre Maschinen suizidal eiskalt und ruhig in die gegnerische Flotte lenken. Selbst Sadisten verrichten ihre Abscheulichkeiten in hoher Achtsamkeit. Etc.
Nichts in der Menschen-Welt tönt ohne Gegenklang, wenn ihm die Liebe fehlt und die Umfassung durch größere Kontexte. Das Konzept der Achtsamkeit ist davon nicht ausgenommen, soll Seelenruhe sich nicht in Kaltblütig- oder Gleichgültigkeit verwandeln.
Um so wichtiger scheint, an der Beziehung zwischen Wachheit und Achtsamkeit zu arbeiten, ja den notwendigen Zusammenhang zunächst einmal zu verstehen.
Wachheit öffnet das Bewusstsein und damit die Sinne im Hinblick auf die Vielfalt und den Reichtum des Lebens. Sie weckt Interesse und erweckt unsere Phantasie. Erst Wachheit ermöglicht Präsenz und die Empfindung von Unmittelbarkeit und Eingebundensein in das Geschehen. Aber zugleich geht sie darüber hinaus.
Dem Blick stellt sich nicht lediglich das direkt vor den Toren der Sinnlichkeit Liegende, sondern er schaut durch die Dinge hindurch und hinter sie. Wachheit will verstehen! Neben dem Augenblick fordert deshalb auch das ihm Folgende Aufmerksamkeit. Und es steht in Verbindung mit dem untergehenden Horizont des Vergangenen, dem Wie und Warum des Gewordenen. Ein wacher und zugleich achtsamer Mensch steht im Erleben der Schnittstelle von Gewesenem, Gegenwärtigem und der Entwicklung in das Kommende hinein. Wachheit können wir so auch als Prozessbewusstsein umschreiben. Das nicht Bekannte, Unvorhergesehene, Verborgene, Überraschende und das Geheimnishafte sind immer mit im Spiel. Wachheit in diesem tieferen Sinne fordert deshalb geistige Offenheit, fortwährende Ausrichtung und das Erkennen, bewusster Teil des Geschehens zu sein.
Als Archetypus des wachen Menschen kann das Prophetenhafte gesehen werden. Es steht im Strom und der Erkenntnis des Gewesenen. Von dorther liest es die Gegenwart und öffnet sich in die Schau dessen, was kommen mag. Nur auf die Geschichte, die reine Gegenwart oder Zukunftsträume fixierte Menschen taugen dafür genauso wenig wie der verschlossene und selbstgenügsame Aufenthalt in bestimmten Weltdeutungen, Ideologien oder Theologien.
Wachheit allerdings ist nicht davor gefeit, der ständig lauernden Gefahr zu erliegen, sich in purer Neugier oder Gedankenumtriebigkeit zu verstricken. Deshalb steht ihr die Achtsamkeit zur Seite. Sie holt zurück, erdet im Moment, lässt ruhsame Nüchternheit einkehren.
Es gibt keine ernst zu nehmende Achtsamkeit ohne Wachheit. Und das gilt auch umgekehrt.
Zum Anhören klicken Sie bitte hier
Wenn Sie meinen Blog abonnieren möchten, klicken Sie bitte hier
Das Foto zu diesem Beitrag habe ich zur Sonnenwende gegen Mitternacht an der Küste Nordjütlands gemacht. Es zeigt den Himmel über der Nordsee, ohne jegliches Kunstlicht.