Grenzräume

ClausAllgemein

Naturgesetzlich sind sie uns beigegeben. Unablässig werden wir mit ihnen konfrontiert, stoßen wir an sie. Grenzen begegnen uns in der Zeit und im Raum, doch der Begriff, das Verständnis und die entsprechende Beschreibung sind auch in die soziale und psychologische Sphäre eingewandert. Nichts entkommt der Grenze.

Was sie mit uns macht, trägt durchaus als ambivalent empfundene Züge. Mal tritt sie als Zurückweisung, ja Kränkung in unsere Wahrnehmung – als das, was sich Sehnsucht, Wunsch und Regung entgegenstellt. Einengend wirkt sie, sich unerbittlich vor dem Freiheits-, Ausbreitungs- und Überschreitungsdrang aufbauend. Dann wiederum stiftet sie Schutz und das Empfinden von Geborgenheit, schenkt Überschaubarkeit und Halt in einer sich globalisierend, sozial und mental zerfransenden Welt.

Grenzen definieren wechselseitig, was Innen und was Außen ist, ja sie schaffen Beides eigentlich erst. Etwas durch eine Grenze auszuschließen, ist zugleich das Beinhalten, das Eingrenzen von Anderem. Würden wir versuchen, vollständig ohne Grenzen zu denken, hätten wir vermutlich Schwierigkeiten, etwas zu beschreiben. Denn unser Gehirn orientiert sich an ihnen, um Identitäten überhaupt zu verstehen und zu unterscheiden.

Im Großen sichern Grenzen Räume des Verhandel- und des Regelbaren. Staaten- und Kulturverbünde wie die Europäische Union, einzelne Länder und in ihnen wiederum verschiedene Verwaltungseinheiten sind territoriale Beispiele, die aber zugleich immer auch Folgewirkungen mit sich bringen. Tief ragen diese in die unterschiedlichsten sozialen Felder und in das Bewusstsein von Einzelnen und Kollektiven hinein.

Im Bezug auf den einzelnen Menschen weisen die Grenzen zwischen Ich und Du auf das jeweilige Eigensein und Anderssein hin. In der Respektierung der Grenzen des Anderen achte ich dessen Identitätsverständnis und auch dessen Schutzbedürftigkeit. So vermag die Grenze nicht nur Personalitäten zu stärken, sondern sie ermöglicht auch Begegnungsfähigkeit auf Augenhöhe. Ein Lob der Grenze auszusprechen, meint deshalb, sie als Voraussetzung verstehbarer und gestaltbarer Beziehungen zu sehen. Allerdings sollten wir uns dabei von dem inneren Bild lösen, das die Grenze als eine starre Linie zeichnet. Vielmehr ist sie ein strömender Zwischenraum (siehe Blog vom 28.12.22), der sich durch Begegnungen und wechselseitige Gedankenverbindungen in Bewegung hält.

Ohne Grenzziehungen, ethisch, moralisch und auf das Alltagshandeln bezogen, sind Sozialisation und Wertevermittlung bei Kindern undenkbar. Allerdings zeigt sich hier zugleich ihre die Entwicklung unvergleichlich fördernde Dialektik: wenn sie das notwendige und berechtigte Aufbegehren gegen Lebensschranken provozieren, die als sinnlos und willkürlich wahrgenommen werden. Kinder können so lernen, gewisse Grenzen nicht als etwas Unantastbares, sondern Plastisches zu sehen, dessen Form sie mitgestalten können.

Grenzüberschreitungen verändern die Verhältnisse und vor allem die Gleichgewichtszustände aufeinander abgestimmter und entsprechend austarierter Systeme. Das mag manchmal nur ein Spiel, ein Austesten von Möglichkeiten sein; es kann aber auch zur dauerhaften Auflösung der überschrittenen Grenzen führen und damit neue Räume schaffen. Vor allem hilft die Überschreitung dabei, sich der Grenzen und ihrer Sinnhaftigkeit immer wieder zu vergewissern bzw. den Weg in Veränderungen, ja Transformationen einzuschlagen.
Gleichwohl gilt es hier zu differenzieren. Kriege, sexuelle Übergriffe, Mobbing und Diskriminierung sind Grenzverletzungen ohne jeglichen Räume öffnenden und transformatorischen Charakter. Vernichtung und gewalthafte Vereinnahmung stehen dem evolutionär wertzuschätzenden Grenzraum als Entwicklungsraum genauso entgegen wie gezielte Ausgrenzung.

Mit dem Setzen von Grenzen sollte man sparsam umgehen und ihr Verhältnis zur Freiheit immer wieder neu erspüren. Denn je mehr Grenzen existieren und je schroffer ihre Respektierung eingefordert wird, desto mehr „Institutionen“ zu ihrer Überwachung bedarf es. Es drohen Prüfung, Kontrolle und Bewertung von all jenen Geschehnissen, die mit Grenzüberschreitung verbunden sein könnten. Ideologisch erstarrte politische und fundamentalistisch eingemauerte religiöse Systeme sind dafür warnende und abschreckende Beispiele.

Das Weltzeitalter, in dem wir leben, konfrontiert uns unerbittlich mit den Folgen jahrhundertelanger Grenzverletzungen seitens des Menschen. Stetig haben sie sich weiter gesteigert bis zum gegenwärtigen Punkte hin. Gemeint sind die Grenzen des Wachstums und Grenzen des Konsums, die sich aus der Endlichkeit unseres Planeten und dessen begrenzter Ressourcen ergeben. Was daraus resultiert, ist desaströs auf allen Lebenslinien. Ein Zurück gibt es genauso wenig wie einen Stopp der in Gang gesetzten Prozesse. Evolutionär betrachtet, war dies vermutlich unvermeidlich in unserem immer ungestümer werdenden Ausdehnungsdrang. Doch es liegt auch eine außerordentliche Chance in diesem planetarischen Debakel. Denn einerseits wird der Grenzraum, in dem wir nun leben, zwar kontinuierlich stärker zusammengepresst, und es bricht unaufhaltsam Lebensraum in den Abgrund. Gleichzeitig jedoch öffnen sich neue Orientierungsfelder. Deren klare und alternativlose Koordinaten wollen in einen neuen Bund mit dem Leben führen. In Wertschätzung des uns einfach so Gegebenen, in den tiefen Respekt allem Leben gegenüber.
Es ist eine Gnade, im Grenzraum des Lebens, dem Schicksalsraum der Menschheit seinen Aufenthaltsort zu haben, hoffend, darin endlich den Diamanten des Zukünftigen zu finden. Nie war Menschsein außerordentlicher in der Herausforderung. Nie wurde mehr Einsicht, Edelmut und visionäre Tatkraft benötigt. Dafür werden viele Grenzen fallen müssen: In unserer Wahrnehmung, unserer Empathiefähigkeit, der Liebe.

Dann kann Zukunft am Abgrund des Gegenwärtigen ihr eigenes Bild gestalten.
Dann wird sie Schönheit inmitten des Desasters malen.
Und so wird die Überlebensgrenze zum Fanal der Hoffnung für ein Darüberhinaus.

Diese Reise wird eine über unseren eigenen Schatten sein.

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