Die Unschuld der Stille

ClausAllgemein

Für so manchen Zeitgenossen wirkt sie unheimlich. Da ist kein Futter für die ausgetretenen Wege der Gedankenlabyrinthe, kein Anstößiges, um sich aufzuregen und ins sofortige Urteilen zu gehen. Kein äußerer Reiz lockt, kein unruhiges, gieriges, manchmal frevelhaftes Spiel der Augen; keine ablenkenden Töne. Die Fülle der Stille hat keine Ecken und Kanten, keinen Überfluss an Phänomenen, die Aufmerksamkeit beanspruchen.

Man kann von der Zeit, in der wir leben, auch als von derjenigen sprechen, die der Stille zum Feind wurde. Sie erträgt sie nicht. Die dünne zivilisatorische Haut trägt Brandzeichen aus dem Krieg gegen die Stille. Sie darf nicht sein – so zweckfrei, geldfremd und ehrlich wie sie manchmal ist, vorausgesetzt, man spannt sie nicht für einen Nutzen ein, etwa als meditatives Geschäftsmodell.

Zweifellos ist die Stille eine Herausforderung. Man muss ihr gewachsen sein. Und wer das nicht bereits in jungen Jahren als etwas Selbstverständliches erfahren hat, dem wird es zu einem langen Schulungsweg, zu einem engen Pfad der Sozialisation. Keine Meditations-App kann ihn verbreitern. Man muss sie von innen her wollen und sich mit Hingabe und Übung auf die Suche und in Resonanz begeben.

Geschützte Orte, wie Kirchen oder Friedhöfe, führen nicht von vorneherein in die Erfahrung der Stille, wenn der Mensch zunächst nicht still in sich ist, in sich ruht, von Sehnsucht getragen. Dann allerdings kann sie auch im diffusen Lärm der Großstadt gefunden werden, strahlt aus dem Hintergrund des Unsagbaren und füllt die Leere, die hinter den Fassadenwelten und Ablenkungsmaschinen lauert.

Was aber nun meint Stille überhaupt? Ist nicht das Wort die Königsdisziplin im Sein des Homo Sapiens – und besonders des christlichen?

Gewiss, am Anfang war das Wort, wie es im Prolog des Johannes-Evangeliums heißt. Die Frage dabei aber ist, was man als „Anfang“ setzt. Und war nicht vor dem Wort die Stille? So lesen wir im biblischen Buch der Weisheit: “Als tiefes Schweigen das All umfing, da sprang Dein allmächtiges Wort vom Himmel.“ (Weisheit 18, 14-15)
Auch wenn die Sprache für das Menschen untereinander Verbindende steht; und das Gespräch erst Gemeinschaft konstituiert; es ist die Stille mit ihrer Unschuld, die das potentielle Wort im Vorraum des Aussprechens reinigt, klärt und ggf. verwirft. So mag sie vorbeugen, dass nicht aus dem Gespräch Auseinandersetzung wird und damit ein Auseinander einhergeht statt Communio.

Stille ist mehr als nur eine Pause zwischen Gesprächen, Ruhe in der Nacht oder betroffenes Schweigen. Sie hat ihren Eigenwert. So wie der Wald ihn hat und nicht nur mit den Augen des Holzhändlers, des Försters oder der Spaziergeherin gesehen werden will. Sie ist mehr als das Verstummen der Stimmen, wie es uns etwa in der gesammelten, erwartungsvollen Wortfreiheit vor dem ersten Klang des Orchesters im gefüllten Saal begegnet.

Wesenhafte Stille, die sich besser als Stille hinter der Stille bezeichnen ließe, führt in einen alles umfangenden Raum, dessen Tiefe in Resonanz mit der eigenen Seelentiefe gehen kann – vorausgesetzt, diese ist entschlackt und frei; berührt im Kern ihrer ursprünglichen und unzerstörbaren Unschuld. Dann liegt die Stille wie ein verborgener See, wie eine unsichtbare Dimension inmitten der Vita Activa.

Gott und auch der Tod – sie leben in der Stille, fern von Worten und deren Beschreibungsbemühungen. So liegt in ihr immer ein Sterben und die Geborgenheit des Absoluten zugleich. Keine Sprache, kein Begriff, kein Gedanke ist dem hinlänglich gewachsen. In diesem Reich des Unsagbaren ruht das große Geheimnis, das Heilige, das Ehrfurcht gebietende Mysterium Tremendum. Was sollte da zu stammeln sein? Nur Unschuld oder besser: die Haltung der Unschuld kann hier bestehen. Verstummend zieht sich alles zurück, was auf der Bühne des Lebens nach Ausdruck sucht. Bedeutungen lösen sich auf, genau wie Zuordnungen und Bewertungen. Sie verblassen bereits am Rande der Stille, im ergriffenen Schweigen des Menschen. Dieses Schweigen ist zwar nicht identisch mit der Stille. Aber es führt an die Schwelle.

Stille allein ist dem Geheimnis des Glaubens gemäß. So wie es im Psalm 37,7 heißt: „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn.“ Gerhard Tersteegen ergänzt in einem Liedtext 1729: „Gott ist in der Mitte. Alles in uns schweige…“ Weitestgehend ist dies in den kultischen Vollzügen der Religionen in Vergessenheit geraten. Stattdessen Worte über Worte. Vielleicht, weil man Angst davor hat, was die Stille Unkalkulierbares mit den suchenden und hoffenden Menschen macht. Vielleicht aber auch, weil manchen Liturgen selber die Stille fremd ist und sie ihr deshalb mit Unsicherheit und Argwohn begegnen.

Für das Wort hat die Stille unermessliche Bedeutung. Es regeneriert sich in ihrem Feld. Geklärt und gereinigt wird es essentiell. Eine Aura des Ewigen haftet an jenen Worten, die aus tiefer Stille in das Licht der Phänomene treten. Sie sind autoritativ von Innen her.
Die essentielle Stille können wir aus der Tiefe unseres Herzens ersehnen, nicht aber durch bloßes Wollen ergreifen. Sie lässt sich nicht zwingen, in kein Um-Zu pressen. Das bloße Sein reicht; das unschuldige, nackte Da-Sein, ohne Zwang zum Wollen und zum Haben, aber erfüllt von Sehnsucht. Dann ist es wie ein Hinabsinken – durch das Schweigen und die ihm folgende Ruhe hindurch zum Grund, wo sie wartet. Unvermutet treten wir in sie ein, und die Stille umhüllt uns, wie ein Lächeln. 

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