Die zweite Mutation

ClausAllgemein

Womit wir Menschen Mutter Erde und uns selber konfrontieren, bewirkt nicht nur Entsetzen und Ratlosigkeit. Niemand, der sich einen offenen und selbstehrlichen Blick bewahrt hat, niemand, der über eine Empathie verfügt, die über ihn hinausweist und niemand, der einfach nur nüchtern eins und eins zusammenzählt, kommt an der Einsicht vorbei: Die Zeit des Menschen und der Menschheit läuft ab. Streiten wir uns dabei bitte nicht über ein paar Jahre.
Des Öfteren habe ich solches in meinen Blogs anklingen lassen – als analytischem Schluss; manchmal aus Erschrecken und Wut; meistens aus Trauer über das, was mit dem Leben geschieht, aus Trauer aber auch über den Menschen selbst. Doch im Letzten ist dieser Blick zu linear und zu wahrscheinlichkeitsorientiert.

Es mag völlig außer Zweifel stehen, dass die Zeit des Hindurch, die Phasen der Transformation und die Prozesse der Umgestaltung unermessliche Opfer in allen Kontinenten, auf allen Ebenen des Seins, des Lebens und der Lebensformen fordern werden. Das betrifft nun gerade auch den Menschen. Und es wird solange währen, bis sich ein neues Gleichgewicht eingependelt hat, das dem Planeten, seiner Bestimmung und seinen Möglichkeiten und Grenzen gemäß ist; bis alles Leben zu seinem Recht auf Entfaltung kommt – unter dann allerdings grundlegend veränderten Rahmenbedingungen als heute. Ob das in jener Epoche noch ein oder zwei Milliarden Menschen sein werden  – wer wagt da Prognosen abzugeben…

Die Menschheit ist kein Dinosauriertum – das ja so gerne als Beispiel für ein mehr oder weniger „plötzliches“ Verschwinden einer planetaren Art herangezogen wird. Sie ist unglaublich anpassungsfähig und lösungsorientiert, wenn es ihr an den Kragen geht. Vor allem ist sie in einem hohen, wenn auch noch bedeutend steigerbaren Maße fähig zur Selbstreflexion. Dem kommt entgegen, dass Artensterben, Klimawandel und die unausweichlichen Kriege um Ressourcen und nahrhaften Boden keinem Meteoriteneinschlag gleichen. Der Mensch kann jederzeit intervenieren. Wie weitreichend noch, das wird die zentrale Herausforderung sein in dem existentiellen Wettlauf mit einer sich ins Mark des Lebens hineinfressenden Vernichtungsspirale.

In deren Mitte bewegen wir uns bereits, sind gefordert als Menschheit und als ganz konkrete Person, die einen Namen trägt. Die Selbstreflexion, die wir zu leisten in der Lage sind, wird sich allerdings erweitern müssen: vom kleinen Ego-Selbst zum großen Lebens-SELBST. Das erfordert die Kopplung allen Bewusstwerdens mit dem täglich dringlicher werdenden Überlebensruf, und das nicht nur auf uns bezogen. Für eine Sentimentalität des Verlusts wird dabei kein Raum mehr sein, wenn das Diaphane, das durchscheinende Neue erahnt, ganz fein gespürt und tief respektiert werden soll.

Zum Menschen wurde vor vielen tausend Jahren das gereifte Tier erst, als sich in ihm die Sehnsucht rührte, die streckende Bewegung über sich selbst hinaus. Das erwachte Wesen sah sich mit der Frage konfrontiert, was – oder besser – wer es denn sei, wie es „gemeint“ sei. Im Mythos, also der erzählerischen Antwort, formulierte es Erklärungen für das Woher und das Wohin, und begann hinfort, sich entsprechend zu orientieren. Wir sprechen hier von der ersten großen Mutation unserer Gattung. Aus ihr gingen Religion, Philosophie, bildende und darstellende Kunst, Poesie, Musik, Wissenschaft, Medizin und Architektur hervor. Die im Menschen angelegte Schönheit und Schöpferkraft gelangte zu einer ersten Blüte.

Ein vergleichbarer Quantensprung wartet im gegenwärtigen Erdzeitalter auf seinen Durchbruch. Neben klarer Analyse und nüchterner Vernunft fordert das Leben:
 
Sein in Liebe
Sein im Bewusstsein der Verbundenheit mit allem Leben
Sein in Zuwendung
Sein in Selbstrespekt und Selbstlosigkeit
Sein in Kindschaft und Mitschöpfertum zugleich

Diese zweite Mutation ist im Grunde evolutionär angelegt. Um sie ins Wirken zu bringen, muss der innere Meister in jedem von uns befreit werden, damit den Zauberlehrling nicht die selbst verursachten Fluten hinwegspülen. Wie der verlorene Sohn Einsicht in sein Scheitern zu zeigen, umzukehren und sich neu auszurichten – das nennt man heute Heldentum. Wie sagte doch Pippi Langstrumpf: „Der Sturm wird stärker. Das macht nichts. Ich auch…“

Es gibt manche Heilige, die nicht nur Schein-Heilige sind. Franziskus von Assisi (1181 – 1226), dem wir den wunderbaren „Sonnengesang“, eine Hymne an die Schöpfung verdanken, gehört als überkonfessionelle Lichtgestalt und Prophet einer mit dem Leben versöhnten Menschheit genau so dazu wie etwa Ansgar (801 – 865), Apostel des Nordens. Der Bischof von Bremen und Hamburg errichtete Spitäler, kaufte Gefangene frei und setzte sich für die Abschaffung des Sklavenhandels ein. Er war ein Visionär mit Mut und klarem Charakter. Er hat uns die Aufforderung hinterlassen: „Ich hoffe im ganzen Herzen auf die Gelegenheit, ans Werk gehen zu können, und niemand wird es gelingen, mich von meinem Vorhaben abzubringen.“ Franziskus ergänzt kurz und schlicht: „Plus exemplo quam verbo“ – Tu es, und zwar mehr mit dem gelebten Beispiel als durch das bloße Wort!

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Der nächste Blogbeitrag erscheint vermutlich erst in zwei Wochen.