Das Gewissen – nicht nur in Zeiten des Krieges

ClausAllgemein

Ob denn Waffenlieferungen in einer Kriegssituation an die überfallene und angegriffene Partei zu billigen seien – der Frage ging ich in meinem vorletzten Blog-Beitrag nach und habe mich positioniert. Die Entscheidung folgte einer Rationalität, wie sie die Bergpredigt unmissverständlich zum Ausdruck bringt und wie sie etwa auch die Freiheits- und Friedenskämpfer Nelson Mandela und Mahatma Gandhi zu leben versuchten: Der Weg zum Frieden liegt allein im Frieden, in der Haltung der Friedfertigkeit selbst. „Ahimsa“ ist in den asiatischen Religionen der Begriff dafür – wir können ihn übersetzen als „Geist des Nichtverletzens“. Und doch, auch wenn man lange geprüft, abgewägt und sich dann in innerer Klarheit, letztlich dem Gewissen folgend, entschieden hat: Es bleibt ein Stachel, wenn ich an die ohnmächtigen, die sich verteidigenden und um ihre Freiheit kämpfenden Menschen denke. Die getroffene Gewissensentscheidung schließt ein verbleibendes schlechtes Gewissen also nicht aus – vorausgesetzt, ein Mensch widersteht der Verführung zur Selbstgerechtigkeit und zur Verabsolutierung des eigenen Standpunktes.

Nicht nur in diesem Falle scheint ein reines Gewissen jenseits des Möglichen; stehen sich doch zwei unterschiedlich begründete Gewissenswelten gegenüber, die identisch sein können, es aber keineswegs müssen: Die praktische Vernunft politischer Kultur und Rechtsstaatlichkeit auf der einen und der eher überzeitliche Wert des Friedensgebotes, der doch immer schon jetzt nach Verwirklichung ruft, auf der anderen Seite. Solches hatte wohl der Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer im Sinne als er anmerkte, dass ein gutes Gewissen eine Erfindung des Teufels sei. Es ließe sich ergänzen, dass in einer zerrissenen und vieldeutigen Welt selten kristalline Klarheit herstellbar ist. Oft genug leben wir als Angehörige unterschiedlicher Systemwelten mit unterschiedlichen Anforderungskoordinaten – etwa aus Politik, Kultur, Religion, Familie, Arbeitswelt… Selbst wenn diese ein übergeordneter ethischer Kompass verbindet – in der klaren Entscheidung pro oder contra sind Verletzungen und auch Teilirrtümer unvermeidbar. Dafür möchte ich noch einmal einen Begriff von Albert Schweitzer heranziehen, der von der naturgegebenen „Selbstentzweiung“ des Lebens spricht.

All dies führt zu der Frage nach dem Wesen und der Bedeutung des Gewissens. Die Antwort fällt vielschichtig aus.

Seit den antiken Tagen lebt die Vorstellung einer inneren Instanz, aus der ein sittliches Urteil hinsichtlich des menschlichen Handelns und Verhaltens spricht. Normalerweise sieht sich der Mensch genötigt, dieser inneren Stimme zu folgen, würde er ansonsten doch sich selber und seine Selbstachtung in Frage stellen.

Hinsichtlich des Ursprungs gibt es verschiedene Vorstellungen über das Gewissen. Der eher soziologische Blick sieht es als Resultat der gesellschaftlichen Verhältnisse, von Erziehung und der Prägung durch die unterschiedlichsten Instanzen sowie die vorherrschenden Wertvorstellungen. Eine eher anthropologische Sichtweise erkennt es als naturgegebene Anlage, eine Urregung des Herzens, eine existentielle Urteilskraft hinsichtlich von gut und böse. Sie ist unserem Wesen beigegeben.
Beides trifft in Verbindung mit der je unterschiedlichen persönlichen, auch gesundheitlichen und psychischen Disposition eines Menschen zu. Denn selbstredend erfährt die Stimme, die uns erst zu Menschen macht, ihre Tonalität und Färbung durch mein So Sein in Familie, Gesellschaft und Kultur. So ist es gerade totalitären Systemen und Ideologien eigen, dass sie es durch Gewalt, Indoktrinierung und Propaganda vermögen, etwa die Grundregung des Gewissens wider das Töten von Menschen umzuprägen in ein: „Du sollst töten!“ Der Nationalsozialismus ist dafür das herausragende Beispiel. Doch der Reigen führt bis in religiöse Fanatismen hinein – wie etwa bei der Inquisition der Katholischen Kirche des Mittelalters oder aktuell dem „Islamischen Staat“.

Das Gewissen also will wohl abgewogen sein, zwischen seinem Wesen als innerem Heiligtum des Menschen und seinen Anforderungen hinsichtlich der äußeren Welt. Dieser Spannungsbogen ist nicht auflösbar. Er begleitet uns in alle Entscheidungen unterschiedlichster Reichweite hinein. Und er will Ernst genommen werden, denn ethisch wird Handeln, ja Denken, erst, wenn es an das Gewissen rückgebunden ist. Nur das holt es aus der Gefahr, mehr oder weniger beliebig instrumentalisiert zu werden bzw. mit unterschiedlichem Maß zu messen.
Das Gewissen bleibt die letzte Instanz! Nichts Kostbareres neben der Liebe können wir unseren Kindern und werdenden Menschen auf allen Ebenen der Sozialisation mitgeben. In erster Linie dadurch, dass wir es selber leben.

Die Verantwortung, die mit der Gewissensorientierung als ungebrochener Suche nach dem Guten verbunden ist, richtet sich somit immer auf das Eigene und die Mitwelt zugleich. Wobei wir heute konstatieren müssen, dass Mitwelt alles Leben umfasst, also über den Menschen weit hinausreicht.
 
Ein Kernproblem für das Gewissen liegt in Unwissenheit, die oft als Quelle eines Fehlurteils angesehen werden muss. Eine entsprechende Wahrscheinlichkeit steigt mit der Zunahme von Komplexität und Unüberschaubarkeit gesellschaftlicher und kultureller Prozesse. Ohne Bemühen um möglichst vielfältige, ja den Widerspruch beinhaltende Informationen, ist deshalb die Suche nach dem rechten Weg und dessen ehrliches Erspüren kaum vorstellbar. Und ohne dieses Bemühen, ja gar dem Verweigern von Wissen und Information entsteht ansonsten Schuld. „Wir haben doch nichts gewusst…“ kann spätestens seit den Nazi-Verbrechen nicht mehr als  Ent-schuld-igung dienen.

Gewiss, nicht unfehlbar zu sein, lebt das Gewissen idealerweise in einem Feld hoher Wachsamkeit und Achtsamkeit. Darin lernt es zu differenzieren zwischen den aktuell gültigen Moralvorstellungen einer Gesellschaft, überzeitlichen Werten und der Stimme des Herzens. Selbstreflexion wäre dafür ein anderes Wort. Und diese beinhaltet vor allem auch die Botschaften, die uns in der bewusst aufgesuchten Stille berühren – wenn wir die Konditionierung durch Gedanken, durch unhinterfragte Gewöhnungen und verinnerlichte Regeln für eine Zeit abstreifen bzw. ruhen lassen. Wenn wir also eins werden mit unserem eigentlichen, dem tieferen Selbst, der Heimat ursprünglicher Gewissensregung.

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