Handicap und Zeitenwende. Ein besonderer Blick

ClausAllgemein

Ein Gastbeitrag von Hans-Willi Weis

Was mich beim bloßen Gedanken an Katastrophe oder Krieg beunruhigt: Wo es von einer Sekunde zur anderen heißt, rette sich, wer kann, sind Behinderte übel dran. Mehr als andere jedenfalls. Angewiesen auf Rücksicht und Hilfe in einem Moment, da gefühlt nur der egoistische Ellbogen die eigene Haut noch zu retten verspricht. Beides, Katastrophen und Krieg, rührt an Urängste, provoziert primitive Reflexe, startet das psychophysiologische Überlebensprogramm von Kampf oder Flucht. Zu beidem, Kämpfen oder Flüchten, sind wir Behinderten denkbar schlecht disponiert. Allerdings finde ich dort, wo Behinderte sich öffentlich oder medial mit eigener Stimme zu Wort melden, nichts darüber, was insbesondere der aktuelle Krieg mitten in Europa, mit ihnen macht. Ein Umstand, der den Anschein entstehen lässt, als ginge die Behinderten dies nichts an, jedenfalls nicht mehr und nicht weniger, als es alle anderen, auch die Nichtbehinderten, angeht.

Auch wenn wir hier in Deutschland den Krieg lediglich auf eine sehr vermittelte Weise zu spüren bekommen, drückt seine von den Medien tagtäglich präsent gehaltene Realität darum nicht minder aufs Gemüt. Und das einmal mehr, wenn ich hier bei uns eine bestimmte „Fernwirkung“ des Kriegsgeschehens in der Ukraine beobachte. Nämlich die: In Kriegszeiten ist Härte angesagt, das Weiche droht unterzugehen.
Mit Letzterem werden auch diejenigen assoziiert, die Worte wie Frieden und Friedfertigkeit in den Mund nehmen. Pauschal werden sie eines naiven, weltfremden, sogar gefährlichen Pazifismus bezichtigt. Jetzt, da überall hart gesottene Krieger und Kriegerinnen wie Pilze aus dem Boden schießen und sogenannte Schwanzeinzieher oder Weicheier noch weniger als zuvor willkommen sind oder geduldet werden. Ist es aber nicht so, dass besonders wir Behinderten gerade auf Qualitäten wie Friedfertigkeit und Sanftmut, Rücksichtnahme und Behutsamkeit zur Bewältigung unseres ganz normalen Alltags angewiesen sind? Womit erst nur die Verhärtung im Atmosphärischen, im gesellschaftlichen Umgangston angesprochen ist und noch nicht die gesellschaftspolitisch strukturellen „Umschichtungen“, sprich, die in Folge der „Zeitenwende“ aufgrund von steigenden Rüstungsausgaben tendenziell sinkenden Sozialausgaben. All dies lässt in den vor uns liegenden kriegerischen Zeitläuften, insbesondere mit Blick auf die gesellschaftliche Lage von Behinderten, für die Zukunft nichts Gutes ahnen. Um so mehr ist eine analytische Durchdringung dessen, was uns sozial und politisch gerade zugemutet wird, nötig.

Ein erstes und wichtiges Ergebnis solchen Nachdenkens: Es ist schön und gut, wenn von Behindertenseite schwerpunktmäßig über Inklusion gesprochen und geschrieben wird. Inklusion als gesellschaftlicher Zielzustand, bei dem ich von meiner persönlichen Beobachtungswarte aus behaupten würde, dass Ideal und Wirklichkeit bis heute in einem Maße auseinanderklaffen, dass der inflationäre Gebrauch der Vokabel Gefahr läuft, die Realität mit ihren harten Tatsachen ungewollt zu beschönigen. Denn für eine ungeschminkte Beschreibung dieser Realität kommt unter dem Strich kein anderes Wort infrage als Exklusion. Unter den derzeitigen Bedingungen einer auf Härte getrimmten „kriegerischen“ Zeitenwende, deren Ende nicht absehbar ist, wird sich am Status quo dieser Exklusion noch weniger Entscheidendes ändern, als es schon davor der Fall gewesen ist.

Ein zweites Nachdenkergebnis: Das Gros von uns Behinderten zählt zu den gesellschaftlich und politisch Unmaßgeblichen in diesem Land und dieser Gesellschaft. Da weder wohlhabend noch prominent, gehöre auch ich, ein erblindeter Kulturwissenschaftler, zu dieser Mehrzahl der behinderten Menschen, die de facto von sozialer Exklusion betroffen sind. Und gehöre mithin zu jenen gesellschaftlich und politisch Unmaßgeblichen.

Den Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen hierzulande erlebe ich als das mich zur Zeit am stärksten Beunruhigende, Beängstigende und schmerzlich Bedrängende. Und was mich dabei, gerade vor dem Hintergrund der zurückliegenden Pandemiezeit, an den derzeitigen öffentlichen und medialen Reaktionen auf den Krieg als erstes erschreckt, ist ein Déjà-vu:  Nämlich die Ruppigkeit, mit der leitmedial Front gemacht wird gegen Zauderer, Zögerer, Waffenlieferungsskeptiker, mahnende Stimmen, die vor einer Atomkriegsgefahr warnen. Der „Exzess“ und die „Hysterie“, die Heribert Prantl, einsamer Rufer in der medialen Mainstreamwüste, im Rückblick auf die Coronamaßnahmen und die Impfkampagne beklagt, finden gleichsam ihre Fortsetzung im aktuellen Zeitenwende- und Kriegsdiskurs und dessen Waffenlieferungs- und Rüstungsfuror. Hier ist ein ähnlich totalitärer Gestus und ein in Teilen faschistoides Vokabular gegenüber einer friedenspolitischen Minderheit zu beobachten, die man als „Putinversteher“ oder „Lumpenpazifisten“ rhetorisch diskreditiert, so wie man zuvor die Kursabweichler in der Pandemiebekämpfung als „Coronaleugner“ und „Sozialschädlinge“ diffamiert, stigmatisiert und sozial ausgegrenzt hat.

Drei Tage nach dem Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine, hielt Kanzler Scholz im Bundestag seine Rede zur Zeitenwende. Damals hat mich zum ersten Mal – und ich kann es nicht anders nennen – diese Kriegsbegeisterung, dieser Hurra-Patriotismus, in Erstaunen und Schrecken versetzt. Ich meine nicht die Rede selbst, sondern die teilweise stammtischartigen Reaktionen im Plenum. Die journalistisch und politisch Maßgeblichen können sich offenbar den Luxus gestatten, sich hemmungslos dem primitiven Reflex zu überlassen, auf offener Bühne ein demonstratives Kriegsgeheul anzustimmen. Eine Affektabfuhr, die gleichzeitig dem Einstieg in den Kampfmodus und der Schmerzabwehr dient. Nur keine Schwäche zulassen und keinen Schmerz spüren. Das muss man sich (von der Warte eines so ressourcenarmen wie vulnerablen Behinderten aus betrachtet) erst einmal leisten können!

Wie unglaublich fern ist doch der Habitus von Menschen, die sich in den privilegierten Kreisen der Elite oder der gesellschaftlich und politisch herrschenden Klasse aufhalten, von den gänzlich anderen Lebenswelten und Alltagsnöten, in denen wir Unmaßgeblichen der unterschiedlichsten Milieus feststecken und mit deren gänzlich anderen Herausforderungen wir uns Tag für Tag herumschlagen. Und uns zu allem Überfluss dabei das Elitengeschwätz von der „Augenhöhe“ anhören müssen …

Wie treffend ist doch das, was Heribert Prantl ausgeführt hat: „Behinderung auszugleichen ist ein gesellschaftliches Großprojekt, eine Zeitenwende…Inklusion kostet Geld. Aber diese Inklusionszeitenwende kostet weniger als die andere, und ihr Mehrwert ist gewaltig, weil die Kultur des Helfens die Gesellschaft wunderbar verändern kann.“

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Dr. Hans-Willi Weis ist ein erblindeter Philosoph und Kulturwissenschaftler. Er lebt und arbeitet als freier Publizist in Staufen bei Freiburg. Zu seinen Buchpublikationen der letzten Jahre gehören:
Spiritueller Eros – Auf den Spuren des Mystischen (1998); Exodus ins Ego – Spiritualität und Therapie im Selbstverwirklichungsmilieu (1998); Denken, Schweigen, Übung – eine Philosophie des Geringfügigen (2012); Der Intellektuelle als Yogi – für eine neue Kunst der Aufmerksamkeit im digitalen Zeitalter (2015); Licht und Schatten der Meister (2019). Regelmäßige Kolumnen in den Kobinet-Nachrichten

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