Der weinende Prophet. Nachösterliche Gedanken

ClausAllgemein

Stets neu wird die Metapher vom christlichen Abendland hervorgekramt und wie eine Hostie empor gehoben, wenn das kulturelle Selbstverständnis mit sich ringt, weil es seine vorgegeben scheinende Unhinterfragbarkeit doch in Frage gestellt sieht. Die dabei das christliche Fundament am Lautesten beschwören, verleugnen es allerdings zugleich durch Wort und Tat mit erstaunlich konsequenter Regelmäßigkeit. In Krisenzeiten zeigt sich die Diskrepanz zwischen dem Anspruch einer glanzlos gewordenen Monstranz und der nach Rechtfertigung suchenden sogenannten christlichen Lebenspraxis in aller Deutlichkeit. Um den Stifter dessen, was christlich genannt wird, jenen Jesus von Nazareth, schert man sich dabei wenig bis gar nicht. Ja, es klingt wie blanker Hohn, wenn aus der Mitte des Christentums heraus die Ideale des jüdischen Propheten als weltfremd und nicht lebbar katalogisiert werden.

Das christliche Glaubensbekenntnis formuliert die Auferstehung als verbindliche Gewissheit. Das fürwahr genommen, stellt sich dann doch die Frage, wie der auferstandene bzw. transformierte Geist solche Diskrepanz zwischen Wort und Lebenspraxis durch die Zeiten hindurch wahrgenommen hat und wahrnimmt, ja was das mit ihm macht.
Seine Worte kamen einst wie ein gewaltiger und zugleich so hoffnungsvoller Auftrag oben vom Berge herab:

Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben.
Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.

Sicher, all das ist nicht vergessen. Er hört, was er sagte, immer wieder, vorgelesen in nach ihm benannten Tempeln, gepredigt, wenn es nichts kostet und keine direkten Konsequenzen einfordert.

Ich stelle mir vor, dass zum schrecklichen Zweifel an dem nie Intervenierenden, nie sich Zeigenden, nie eine Hand Ausstreckenden, in Gethsemane unendlich weit entfernten „Vater“ die abgrundtiefe Enttäuschung über jene tritt, die ihm nachzufolgen sonntäglich beteuern und die er gleichwohl reden hört:

„Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen.“
„Gewalt fordert, um sie zu bändigen, Gegengewalt.“
„Ungerechtigkeit gehört nun mal zum Lauf der Dinge.“
„Ich kann die Welt doch nicht alleine retten.“
„Man sollte die Kirche schon im Dorf lassen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit tritt nun einmal immer das Leben.“

Es heißt ja, dass Göttliches und Menschliches nah beieinander liegen. Und so betrachtet, passen die Gottesfinsternis am Kreuz und der alltägliche Verrat am Evangelium durch den Menschen wohl sogar zusammen. Blieb es doch nicht beim Desaster von Golgatha, damals in Jerusalem. Es folgten Orgien von Gewalt, Krieg und Zerstörung, bis hin zu Auschwitz. Und jeder Märtyrer, der sich inmitten der Gräuel für die gute Botschaft, oder auch einfach nur für das Leben hingab, empfand dieselbe Finsternis und Verlassenheit im Moment des Vergehens wie Jesus damals vor 2000 Jahren.
Und der Christusimpuls? Er verweht, denn Christenheit steht nicht auf; ja, sie verwirft das Wort, das ihr zur Wegweisung und zum Trost gereicht worden war. Was bleibt dem Auferstandenen da? Die Frage stelle ich mir ernsthaft…
In seinen Christus-Visionen lässt Rainer-Maria Rilke Christus zu Gott sprechen:

In der Menschen irres Wahngewimmel
warf deinen Namen ich – das große <Er>.
Und dann von tausend Erdensorgen schwer
stieg meine Seele in den hohen Himmel,
und meine Seele fror; denn er war leer.
So warst du niemals – oder warst nicht mehr,
als ich Unsel’ger auf die Erde kam…
Einst wähnt‘ ich, ich gesteh,
ich sei die Stimme deiner Weltidee….
Mein Alles war mir, Vater, deine Näh…
Du Grausamer, und wenn du niemals warst,
so hätte meine Liebe und mein Weh
dich schaffen müssen bei Gethsemane
.“

Rilke endet:

„Es legt ein Reif sich auf den nächtgen Mai.
Ein schwarzer Falter zieht im Flug vorbei
und er sieht Christum einsam knien und weinen.“

Epilog

Es gehört viel Vergessen und viel Verdrängen dazu, solches, was Rainer Maria Rilke empfindet und ausdrückt, aus der eigenen alltäglichen Wahrnehmung zu halten. Wie kann es sein, dass Menschen dem, was ihnen Halt und Orientierung gibt, zugleich die sich sorgende Zuwendung entziehen? Spiritualität ist keine Einbahnstraße. Kein bloßes Handaufhalten. Mit dem, was er als lebenden Geist verehrt, welchen Namen dieser auch immer trage, steht der Mensch in Resonanz, in einer Feldbewegung von Wechselseitigkeit. Ein anderes Wort dafür ist Verantwortung. Nicht nur durch unser Denken, sondern vor allem durch unser Empfinden und das rechte Tun werden wir ihr gerecht – auch als tröstende Hand für den einsamen und weinenden Propheten.

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