Analoge Räume

ClausAllgemein

Still und mit gesenktem Haupt bewegen sich mehr und mehr, vor allem junge Menschen durch die Straßen. Die Sneaker-Schritte auf realem Asphalt, das Bewusstsein hineingesogen in eine smarte Parallelwelt.
Ein Paar in einem Café, die Augen nicht einander zugewandt, sondern jede(r) für sich fokussiert auf das Bildschirmtor zum digitalen Eigentlich.
Das Kleinkind, noch kaum eines Wortes fähig, aber schon in Touch mit dem Gerät, das es beruhigt und seinen Bewegungsdrang minimiert. „Mothers little helper“ sangen einst die Stones, auch wenn sie, es waren die sechziger Jahre, die kleinen gelben LSD-Pillen meinten und nicht die damals noch unvorstellbaren smarten Tranquilizer für die ganze Familie.

Versunken in Ton- und Bildergeneratoren – oder besser: Bewustseinsmaschinen, wird es zu einer antiquierten Frage, was hier Realität und was Digiversum, was Faktum und was Fake ist. Schon längst IST diese aus Nullen und Einsen komponierte Welt Wirklichkeit. Die Frage nach Unterscheidungen wird sich alsbald erledigt haben, weil das sogenannte Echte, Authentische und Naturhafte dann so weit mit dem Techno-Logischen verschmolzen ist, dass diese Konvergenz auch unsere Wahrnehmung beherrscht. Dieser fehlen dann die Koordinaten zur Bestimmung einer Differenz – und das unheilbar, wenn das Bewusstsein, vom Säuglingsalter an digital geschult, sozialisiert, ja programmiert wurde.

Man möge das beklagen. Doch auch Klage benötigt einen Bezugspunkt zum Vergleichen, der in Erfahrung wurzelt. Geben Systeme der künstlichen Intelligenz (KI) dem Menschen die Antworten auf nahezu alles und werden zugleich zum Gestalter kultureller Wirklichkeit, wird sich das mit vermittelbarer menschgestützter Erfahrung sowieso erledigt haben. Es mag sein, dass dann sogar die Frage danach, was Menschsein überhaupt meint, unvermittelt in eine synthetische Antwort hineinwächst.

Gewiss, früher war nicht alles besser. Wer solches trotzdem behauptet, leidet vermutlich an einer Mischung aus Geschichtsvergessenheit, Amnesie oder Demenz, bzw. einer unheilvollen Mischung aus Allem. Aber dass die Dinge anders waren, unvermittelter, oft ehrlicher und authentischer – das wird man konstatieren dürfen, ja müssen. Und dieses „anders“ hat einen eigenen Lebenswert.
Schlussfolgert daraus etwas?

Evolution, auch die des Menschen und seiner Hervorbringungen, kennt kein Moratorium. Und sie würde auch keines dulden. Ist ihr Wesen doch die Wandlung. Bewahrung und die Weiterentwicklung des Bewahrten setzen somit eine Entscheidung für eigene evolutionäre Räume voraus. Konkret:

Menschen verbinden und verbünden sich in dem Ziel einer eigenen Entwicklung von Bewusstsein und von Lebensdienlichkeit. Das sollte nicht als Abschied von moderner Technologie verstanden werden; aber über deren Präsenz entscheidet allein der Grad der Konvivialität. Inwieweit also dient sie dem authentischen Leben von Mensch und Natur und vom Menschen in der Natur? Wie kann sichergestellt werden, dass es nicht zu bewusstseinsverändernden Mutationen kommt und nicht zu dem, was Transhumanismus genannt wird?

Befreiende Askese sei hier ein Stichwort für die Arbeit am Unmittelbaren. Handeln und Nichthandeln im Einklang mit der Natur und primären Lebensbedürfnissen bilden den Orientierungsrahmen. Die Stärkung lebensnaher Empfindung rangiert vor dem Sog in virtuelle Welten.

Solches meint kein „Zurück auf die Bäume“, kein Rückzug, wie bei manchen vormodernen nordamerikanischen Sekten, keine Geschichtsverkitschung als Mittelaltermarkt oder Germanenkult. Und keine ultimative Flucht aufs Land. Es geht um die Schaffung von Lebens- und Sozialräumen, die auf Zugewandtheit gründen; die Ermöglichung kommunikativer und gemeinschaftlicher Biotope; von Schutzregionen und Lernfeldern für ein neues Humanum. Analog in der Weltsicht und Weltgestaltung, digital in der überregionalen Vernetzung analoger Räume.

Nicht „Ausstieg“ ist die dementsprechende Metapher, sondern Einstieg in eine Lebenswelt, die auf Achtsamkeit, direkter Zugewandtheit und Einfachheit gründet: bescheiden im Lebensstil; selektiv und begrenzt in der Informationsaufnahme und der Auswahl verlässlicher Quellen; Authentizität ohne digitale Verfremdung von Wirklichkeit sowie KI-gestützte Lebenshelfer und Lebensbegleiter.
Was nach Verzicht klingt, meint Gewinn. Was wie Rückwärtsgewandtheit aussieht, steht für Ermöglichung.

Dazu braucht es keine Förderanträge, keine Baugenehmigungen und keine Vereinsgründungen. Auch Gott sei Dank keine Protokolle. Entsprechende Lebensweltmodelle können überall entstehen. Sie erfordern lediglich zunächst persönliche Entscheidungen und eine kontemplative Rückbesinnung; sodann eine klare Kommunikation nach Außen, Vernetzung und diesbezügliches solidarisches Bemühen. Wir sollten uns nicht darauf beschränken, für die Lebensräume von Insekten, Vögeln und der wenigen verbliebenen Wildtiere zu kämpfen. Die Zeit ist da, wo wir das auch für uns selber brauchen und zugleich verstehen, dass Beides zusammenhängt.

Beginnen ist jederzeit möglich. Der lange Atem wird getragen von kairoshaltiger Luft, die uns ständig umgibt. Entsprechende Vernetzung sollte nur eine Frage des Willens sein.

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