Unser Leben ist eine Erzählung, im Großen des Seins und in der konkreten Biographie. In diesen Erzählungen finden wir uns, haben wir unseren Ort – in Bewegung. Die Erzählung stiftet Identität. Wenn wir denken, fühlen, uns sehnen, wenn wir trauern – es ereignet sich im Rahmen der in uns lebenden Geschichte(n). Doch jede Geschichte kommt an ihr Ende, trägt irgendwann nicht mehr. Der Erzählstrang ist gebrochen oder zur Bewegungsunfähigkeit hin geschwächt. Orientierungsmarken erweisen sich im Näherkommen als Seifenblasen. Der Grund und die Begründung, die Halt gaben, werden offenbar als Lügen, die gleichwohl lange die Kraft hatten, einzuhüllen. Das mag damit zusammenhängen, dass es zunächst keine gewollten Lügen waren, sondern an sich ehrenwerte Vorstellungen, deren lebenspraktische Schecks gleichwohl nie gedeckt waren. Je offensichtlicher diese Bodenlosigkeit wird, desto unversöhnlicher das Festhalten an ihnen. Legitimierten sie doch das strukturelle und bewusstseinsmäßige Fundament des jeweils Gegenwärtigen.
Jahrhunderte, ja Jahrtausende lang beherrschten religiöse, politische und Mythen des Alltags die Erzählweise in den Kulturen. Sie waren Deutungshorizont und Versprechen zugleich. Wesentlich bestimmten sie den Lauf der Geschichte. Als Wahrheit behauptet und verordnet, führte ihre Verneinung nicht selten in Tod oder Verstoßung.
Denken wir nur an die unzähligen, teils wirklich sonderbaren Behauptungen in religiösem Kontext. Dass die Erde eine Scheibe sei und die Sonne sich um die Erde drehe, mag noch das Harmloseste in historischem Kontext sein. Phantastereien über allmächtige, gerechte und strafende Gottheiten gehören dazu, genau wie dogmatisch aufgeladene Kindergeschichten, etwa von Sündenfall und Erbsünde, von Jungfrauengeburten oder dem Lamm Gottes, das alle Sünde der Welt trägt.
Politisch waren und sind es vor allem die Fake News von auserwählten Kulturen, überlegenen Rassen und einem mächtigen Reich, dem Welt sich zu unterwerfen hat. Werden solche fiktionalen Geschichten nur oft genug und auf den historisch jeweils zur Verfügung stehenden zahllosen Kanälen verbreitet, glauben die meisten Menschen irgendwann daran oder unterwerfen sich ihnen aus Angst. Dann sind sie wirkmächtig, bis der durch die Wirklichkeit entlarvte Kaiser eines Tages mickrig und nackt da steht, zuvor jedoch die Welt in ihren Abgrund schauen ließ. Vor allem das 20. Jahrhundert steht für die Apokalyptik an Menschenversuchen, die dunklen Mythen und aus ihnen abgeleiteten Ideologien folgten. Faschismus, Kommunismus und Nationalsozialismus hießen die gigantischen „Experimente“, die auf Schlachtfelder, in Konzentrationslager, in Gulags und auf die Killing Fields führten. Neoliberalismus nannte man irgendwann das, was nicht in Uniform, sondern im Business-Anzug mit der gnadenlosen Ausbeutung menschlicher und naturhafter Ressourcen verbunden war.
In den Erzählungen der Gegenwart sind Freiheit, Gleichheit, Wohlstand durch wirtschaftliches Wachstum und Demokratie die fett unterstrichenen Begriffe:
Welche Freiheit, die sich im Wesentlichen in der durch Medien gesteuerten Konsumgüterfreiheit erschöpft und in politischen Möglichkeiten eines zunehmend enger werdenden Mainstream-Diskurses…
Welche Gleichheit, wo der materielle Reichtum auf Erden und die damit verbundene Macht sich in wenigen Ländern und in den Händen einer globalen Wirtschaftsoligarchie konzentriert. Wobei hier angemerkt werden sollte, dass ein grundlegendes Gleichheitsverständnis und darauf sich berufende Forderungen per se ein Missverständnis darstellen. Denn Ungleichheit, Anderssein und Differenz bestimmen die Evolution und sind ihr Motor. Es kann also immer nur um jeweils neu zu betrachtende Formen von Gerechtigkeit im Rahmen des Andersseins gehen…
Welcher Wohlstand, der auf der Verstärkung von (globaler) Ungerechtigkeit und der Ausbeutung der natürlichen und oft auch sozialen Lebensgrundlagen basiert…
Welche Demokratie, wo lediglich wenige Menschen noch in der Lage sind, auch nur ansatzweise die auflaufenden und sich weiter permanent differenzierenden und komplizierenden Fragen und Problemlagen zu verstehen, geschweige denn anzugehen; und dies betrifft Ökonomie, Ökologie und Technologieentwicklung in annähernd gleichem Maße. Wesentliches wird hier bereits autonomisiert durch Algorithmen abgewickelt, wie etwa der Finanz- und Aktienmarkt. Und die entscheidenden Fragen sehen sich bekanntermaßen durch Fakten beantwortet, die Industrie, Finanzkapital und politische Eliten schaffen, ohne sich je einem demokratischen Diskurs gestellt zu haben. Es macht aber andererseits auch wenig Sinn, zukünftig existentielle Menschheitsanliegen einem auf Unwissen, Eigennutz, Emotionen oder Empörung basierenden allgemeinen Abstimmungsverhalten anheim zu geben. Das käme bei den heutigen Problemlagen einem schleichenden kollektiven Suizid gleich. Politisch-gesellschaftliche Partizipation und entsprechende Entscheidungskulturen müssen neu gedacht werden – von den Notwendigkeiten übergeordneter Problemlagen und Gestaltungsherausforderungen her und nicht von gesellschaftlichen oder irgendwelchen persönlichen Partikularinteressen. Ansatzpunkte wie etwa Bürgerräte/Bürgerversammlungen gibt es bereits.
Etwas Wesentliches tritt hinzu. Die Quantensprünge im Bereich der Künstlichen Intelligenz und hier wiederum der Verschmelzung von Biotechnologie / Gentechnologie und Informationstechnologie werden die herkömmlichen gesellschaftlichen und kulturellen Regelungsmechanismen nüchtern hinter sich lassen. Das scheint auch evolutionär unausweichlich. Kybernetik und die Biotechnologien gehören zur Evolution, die niemals stillsteht. Mit dem Ende des siebten Tages und der weitgehenden Übernahme des planetaren evolutionären Geschehens durch den Menschen ging der Zauber doch erst richtig los. Ob der uns vertraute Homo Sapiens in dem von ihm selbst ins Leben gesetzten Cyberversum überhaupt noch einen Platz hat und wenn ja welchen, scheint völlig offen. Er ist im Spiel des Werdens und Vergehens genauso wenig gesetzt wie es der Neandertaler war und wie es die kybernetischen Organismen sein werden, die bereits begonnen haben uns zu ergänzen.
Im Erzählwerk von Mensch und Menschheit bewegen wir uns also bereits in einem neuen Kapitel, ohne dafür bislang einen angemessenen Handlungsrahmen und eine angemessene Sprache gefunden zu haben. Wohin brechen wir auf, wenn wir nicht einfach von herrenlosen Gewalten Getriebene bleiben wollen? Was sind unsere unumstößlichen Fundamente? Was die Gewissheiten, die tragen, obwohl wir so gut wie nichts über das Universum, seinen Grund und den Grund der Gründe wissen?
Dem soll nachgespürt werden. Manch altes Erzählstück menschlicher Kultur kommt dabei wieder ins Spiel, in den Kontext des Gegenwärtigen gestellt.
Den Ausgangspunkt wird bilden, was als spirituelles, philosophisches und ethisches Fundament gesehen werden kann. Ich möchte es die Fünf Trinitäten nennen. Irrtum und Scheitern inbegriffen.
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