Über die Notwendigkeit des Verstehens

ClausAllgemein

Das Verstehen als jene fragend-forschende Bewusstseinsregung, jene Unruhe des Geistes, die den menschlichen Geist adelt, ist in Misskredit geraten. Dabei gibt es ohne ein tieferes Verstehen der Wesenheiten, Verhältnisse und Geschehnisse keine Entwicklung.
In sich zuspitzenden Krisenzeiten, also gerade dann, wenn Verstehen der Ursachen und Bewegungen die Voraussetzung für das Öffnen von Lösungswegen wäre, dominieren wahrlich zu oft simpelste Problembetrachtungen. Die Mischung aus Unsicherheit, Angst und Empörung nährt dabei den Boden für eine dualistische Weltsicht, Verschwörungserzählungen und die Suche nach Sündenböcken. Populismus breitet sich aus und sammelt all jene ein, die sich Reflexion und Selbstreflexion verweigern und damit selbstverschuldet in ihrer Unmündigkeit verharren. Kritik ist dann nicht zugelassen, Multiperspektivität eine Zumutung, die mit dem Gestus rechthaberischer Erregung zurückgewiesen wird. Das Projekt Aufklärung durchleidet einen weiteren Prozess des Scheiterns. Demokratie als lebender sozial-institutioneller Organismus erstarrt in inhaltsleeren Ritualen. Das Regieren windet sich an den wahren Problemen vorbei, um die Menschen zu beruhigen. Geschenke werden auf Kosten zukünftiger Generationen verteilt und suggeriert, dass alles wieder so werde, wie es einmal war, zumindest aber doch halb so schlimm, wie befürchtet. So schafft eine sich aushöhlende Demokratie den Raum für Kräfte, die lediglich noch ihrer Form und Hülle bedürfen, bis man auch diese abzustreifen in der Lage ist.

Die streitbare Großmeisterin eines aufklärerischen und demokratischen Kulturverständnisses, Hannah Arendt (1906 – 1975), hat unter dem Einfluss ihrer Beobachtung des Eichmann Prozesses in Jerusalem (1961) dringlich darauf hingewiesen, dass wenn wir nicht verstehen, auch das Schrecklichste nicht wirklich verstehen, Geschichte sich wiederholen wird.
Aber was meint Verstehen eigentlich, und was macht es oft so unglaublich kompliziert?

Fast die gesamte menschliche Existenz kann als ein Verständnisprozess auf den unterschiedlichsten Ebenen des Seins gesehen werden. Verstehend eignen wir uns Welt an, stellen Bedeutungen und Zusammenhänge her – und zwar nicht nur auf uns selbst bezogen, sondern auch hinsichtlich des Seins an sich. Dabei sind wir als wahrnehmende, empfindende, denkende und handelnde Personalitäten gefordert. Auch sehen wir uns permanent in die Notwendigkeit gestellt, all das mit den Verstehensprozessen anderer Menschen in unserer Lebenswelt abzugleichen. Deutungsrahmen, über die jeder Mensch, jedes Kollektiv und jede Kultur verfügt, helfen dabei. Manche von diesen sind tiefenkulturell eingebrannt, andere unterliegen einem dynamischen gesellschaftlichen und historischen Wandel.
Die Komplexität des Verstehens … schauen wir ein Beispiel an, das von herausragender Bedeutung nicht nur für die Menschheit, sondern das planetarische Leben an sich ist – das Sterben der Arten. Dazu eine kleine Vorgeschichte.

Neulich in einem Einrichtungsgeschäft. Ich wollte bezahlen. Die Kassiererin deutet auf eine Art Vase neben sich, in der sich in bunten Farben Fliegenklatschen aus Plastik befinden.
„Wollen Sie eine? Kostet nur einen Euro fünfzig.“
„Danke. Wissen Sie, es gibt kaum noch Insekten bei uns. Dann haben die Vögel nichts zu essen und sterben aus. Und dann folgen bald auch wir.“
„Ach…… so ist das. Na dann soll es wohl so sein. Also keine Fliegenklatsche?“

In einem einfachen Wort benannte, aber zugleich sehr komplexe Vorgänge wie das Artensterben, erfordern zunächst ein äußeres Erfassen – nüchtern, faktisch, beschreibend. Welche Arten, in welchem Umfang, welchen zeitlichen Abläufen und welchen Regionen sind betroffen.
Daran kann sich ein rationales Begreifen anschließen, das die Kontexte berücksichtigt, wie etwa die Störung grundlegender Systemgleichgewichte durch Vernichtung von Lebensräumen, Versiegelung und Vergiftung von Böden, Vermüllung und Vergiftung von Gewässern etc. Dafür lassen sich dann äußere Begründungen anführen, die vornehmlich in der Weise des Wirtschaftens und des Konsums und im menschlichen Vermehrungs- und Ausbreitungsdrang ihre Ursache haben.
Wollen wir darüberhinaus verstehen, was hinter dem menschlichen Verhalten steht, kommen Bedürfnisse, Empfindungen, Gefühle und darauf bezogene Gewohnheiten ins Spiel. Sie zeigen uns die Widersprüche auf etwa zwischen der Liebe zu Singvögeln und unserem gärtnerischen Ordnungsdenken, das ihnen die unbeschnittenen Rückzugs- und Nisträume raubt und sie im schlimmsten und erbärmlichsten Falle versteinert, verpflastert und verschottert. Ein anderes Beispiel wäre die touristische Neugier, die jenem den Raum und die Ruhe nimmt, das zu achten und zu bewundern sie vorgibt. Gefühle und Bedürfnisse stehen schließlich hinter unbändigem Konsum. Der Genuss des Moments rangiert vor einer Ehrfurcht allem Leben und den entsprechenden Ressourcen gegenüber.
Um all dieses wiederum verstehend einzuordnen, bedarf es der Metaperspektive. Ein übergeordneter, überzeitlicher Blick zeigt größere Zusammenhänge auf und ordnet unser individuelles und kollektives Verhalten zeit- und kulturgeschichtlich, ja evolutionär ein. Das Betreten dieser Ebene erfordert, uns selber und unsere Verfangenheiten loszulassen, um nicht zuletzt uns selber besser zu verstehen.

Nachhaltige Lösungsorientierung bedarf der Berücksichtigung dieser unterschiedlichen Verstehensebenen. Ratio, Gefühl, Empathie, intuitive Eingebung und auch die Stimme des Gewissens als eines Organs der Liebe wollen gehört werden. Der Komplexität des Lebens kann angemessen nur mit einer analogen Komplexität des Verstehens begegnet werden. Sei die verständliche Sehnsucht nach einfachen Rezepten und der Einteilung in gut und böse auch noch so groß. Cowboy-Diskurse, in denen zuerst geschossen und dann gefragt wird; Erzählweisen mit ideologischen Scheuklappen; politische Schubladen wie Links und Rechts; die fehlende Bereitschaft, dem Leben, nicht nur dem menschlichen wahrhaft zuzuhören – all dies wird uns immer schneller dem Abgrund entgegentreiben.
Sucht nun allerdings doch jemand nach ultimativer Vereinfachung und einer pauschalen Antwort auf die sich darstellenden Existenzfragen – so scheint es mir diese durchaus zu geben. Genügsamkeit, was jegliche Ansprüche an das Leben und die ihm dienenden Dinge betrifft. Lediglich in der Liebe braucht es sie nicht. Da darf Verschwendung sein.

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