Gewaltfreiheit

ClausAllgemein

Die Welt, in der wir leben, ist nicht vorstellbar ohne Gewalt. Staatensysteme und unterschiedlichste Machtverhältnisse, bis in das Private hinein, sehen sich auf sie angewiesen, um zu überdauern. Die Aufmerksamkeitsökonomie des medialen Universums lebt von ihr, indem sie unsere Lust an dem Gewalthaften befriedigt. Gewalt leistet kurzfristige Klärungen. Sie agiert schneller und kompromissloser als der lange und mühsame Weg des empathischen Diskurses. Sie beruhigt die Wut und stillt Racheimpulse, zerstört Störendes und befreit von dem, was als Böses identifiziert wurde. Gewalt findet physisch, psychisch, politisch und vor allem kriegerisch ihren Ausdruck. Sie scheint mit dem Menschlich-Kulturellen substantiell verwoben. Gewalt ist das einträglichste Geschäftsmodell auf Erden, vor allem durch die globale Rüstungsindustrie, deren Tentakel sich in so gut wie jeder Regierung festgesaugt haben.

Doch es gibt Gegenläufiges. Und wir müssen dabei nicht sofort an Jesus von Nazareth, Mahatma Gandhi oder Mutter Theresa denken.

Etwa 20.000 Jahre währt die Geschichte der Hopi in Nordamerika. Nie haben sie Krieg geführt. Das gilt, soweit wir wissen, gleichfalls für die Australier, Tasmanier, die Ainu, Sherpa und Buschleute, die Samen, die Sinti und Roma. Auch wenn die Gründe dafür kulturell unterschiedlich gelagert sein mögen, wird man doch feststellen dürfen: Nur ein Volk, das im Innern befriedet ist, kann sich nach Außen friedfertig verhalten. Nur wo eine stabile Balance von Werten existiert, kann sich Gewaltverzicht dauerhaft bewähren. So wie nur der Mensch, der mit sich im Reinen ist, nach Außen Frieden stiften kann, vermögen das auch nur jene Völker bzw. deren Repräsentanten, auf die solches zutrifft.

Die Gewaltfreiheit, ja Sanftmütigkeit durchzieht als utopischer Anspruch das Selbstverständnis so mancher Religionen. Auch wenn sie als Praxis zwischen Menschen lediglich eine Vorstufe von Bewusstsein und Ausdruck des Einsseins allen Lebens darstellt, bildet sie den notwendigen Schritt hin zu einer umfassenden Friedenskultur. Als Konfliktlösungsbeitrag hat sie deshalb einen herausgehobenen Platz im Selbstverständnis der Vereinten Nationen gefunden – auch wenn wir die bittere Realität ihrer Pervertierung durch einen großen Teil eben jener Nationen zur Kenntnis nehmen müssen.

Gewaltfreiheit ist eine umfassende Strategie. Potentiell bezieht sie jegliche Form von Konflikt und Gegnerschaft mit ein. Für sie ist es nie zu früh und vor allem nie zu spät. Nur sie kann, Konflikte erahnend, diesen voraus eilen und besänftigen; inmitten tobender Auseinandersetzungen Brücken über die Gräben von Hass, Aggression, Vergeltung, Angst und Ohnmacht bauen; zwischen Opfern und Tätern, Gedemütigten und „Siegern“, zwischen den Verwundeten aller Seiten die ersten Bande der Wiederannäherung knüpfen. Doch die Erfordernisse sind groß.

· Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Selbstreflexion/Selbstkritik gehören zu ihren Grundtugenden, genau wie die Friedenssehnsucht und das Streben dahin. Dominieren solche inneren Haltungen, schließt das neutrale Distanz oft aus bzw. schränkt sie im Falle der Vermittlung bei Konflikten ein.
· Wer gewaltfrei handeln will, muss die Hintergründe von Konflikt- und/oder Unrechtsstrukturen tiefenkulturell und mit historischer Tiefenschärfe verstehen und sich entsprechend einfühlen. So erfahren alle Beteiligten den Respekt, den sie verdienen.
· Verzicht fundiert Gewaltfreiheit. Verzicht auf materielle oder Statusvorteile inmitten des Konflikts; Verzicht auf Festhalten an Privilegien, die den anderen unter Druck setzen können; Verzicht auf Wahrheits- und Unfehlbarkeitsansprüche. Man muss sich irren dürfen und es offen zugeben können.
· Gewaltfreiheit lebt von Offenheit, Sichtbarkeit und Identifizierbarkeit – auch wenn dies angreifbar und verwundbar macht.
· Übel und Übeltäter sind oft zweierlei. Und so richtet sich die Orientierung eher gegen Missstände und Unrechtsstrukturen als gegen Personen, die sie repräsentieren. Ohne diese Unterscheidung lässt Trennendes sich nicht nachhaltig überwinden. Das meint kein Freisprechen von persönlicher Schuld, doch so bleibt zumindest die Chance auf Begegnung von Mensch zu Mensch, die Chance auch zu Einsicht und Umkehr.
· Gewaltlosigkeit zerstört bei allem Widerstand und aller Kritik nicht das Selbstwertgefühl des Gegenüber. Auf einer letzten Ebene braucht Jede(r) die Anerkennung und Bestätigung als Mensch. Empathische und gewaltfreie Kommunikation sind dafür essentiell.
· Schließlich gibt ein gewaltfreier Mensch nicht auf. Er flieht nicht in die Kapitulation, die Resignation oder Verdrängung. Der Kampf um Frieden, Recht und Gerechtigkeit stellt sich, wie im Konflikt Israel/Palästina, oft als Aufgabe von Generationen dar. Erfolg kann und muss nicht immer unmittelbar absehbar sein.

In einer ehrlichen Einschätzung kommen wir nicht daran vorbei, die Gewaltfreiheit als Fundament einer Welt anzusehen, die der gegenwärtigen noch unendlich weit voraus scheint. Und doch will sie schon jetzt gelebt werden, wo immer es geht – wie unbeholfen es manchmal auch scheinen und ins Scheitern führen mag. Es braucht die unablässige Arbeit am Aufbau eines Feldes, das resonanzfähig ist und sich durch jede entsprechende Aktion, jeden entsprechenden Gedanken und jedes entsprechende Wort stärkt. Erfahrungen des Scheiterns gehören als kostbare Lernhilfen dazu. Bis vielleicht irgendwann, wenn niemand mehr damit rechnet, ein Kipppunkt zur planetarischen Versöhnung hin in den Horizont des Wahrscheinlichen tritt.

Mühsam, und von der Länge her nicht zu bemessen, ist der Weg des Friedfertigen. Er kennt kein Ziel als den nächsten Schritt.

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