Der Anspruch, Gewaltfreiheit zu praktizieren bzw. ein Leben zu führen, ohne anderes Leben zu verletzen, liegt leider außerhalb des Denkbaren. Jeder Mensch, ein paar „Heilige“ vielleicht ausgenommen, bedarf deshalb irgendwann der Notwendigkeit, dass ihm verziehen, vergeben wird. Doch selbst dann wäre es eine Illusion zu glauben, dass Vergebung einen Vorgang abschließt oder ihn gar aus der Geschichte wirft – von Belanglosigkeiten einmal abgesehen. Vielmehr markiert sie den notwendigen Ausgangspunkt für Erneuerung und damit für ein Wachstum aus den Erfahrungen der Vergangenheit. Deshalb kann Vergeben nur bei minder bedeutsamen Angelegenheiten zugleich Vergessen meinen. Vergebung allein stellt keine Gerechtigkeit für die Opfer her. Und damit würde das wesentliche Element für ein zukünftig friedliches Miteinander fehlen.
In der Vergebung respektiere ich die Würde und den Wert einer Person, einer Gemeinschaft oder eines Volkes – unabhängig von der begangenen Verfehlung. Wären wir dazu nicht in der Lage, gäbe es keine Hoffnung; nicht zuletzt eben, weil jeder Mensch in seiner Fehlbarkeit immer wieder auf Vergebung angewiesen ist. Dies meint auch, sich selber vergeben zu können!
Unrecht zu vergeben erfordert, sich in der zumutbaren Deutlichkeit daran zu erinnern. Zumutbar deshalb, weil es immer ein schuldhaft verursachtes Grauen geben kann, dessen Detailerinnerungen seitens der Opfer in schwerste Retraumatisierungen führen können. Terrorakte, kriegerische Exzesse, sexueller Missbrauch und vor allem der Zivilisationsbruch der Shoah mögen hier, wenn auch von ihrer Bedeutung her jeweils nicht vergleichbar, genannt sein.
Den Hader gegenüber einem anderen Menschen oder einem anderen Volk zu überwinden und gleichzeitig die Frage nicht zu verdrängen, wie zukünftiges Unrecht vermieden werden kann – beides gehört zum Prozess des Vergebens. Wie wäre es wohl mit Deutschland weitergegangen, wenn nach 1945 die europäischen Bruderstaaten nicht schon bald wieder mit offenen Armen auf das Kainsland zugegangen wären… Und welche absolut außerordentlichen Herausforderungen warten heute auf die Menschen in Israel und Palästina…
Klare und unzweideutige Schuldzuweisung erleichtern den Prozess der Vergebung. Doch nicht immer kann eindeutig geklärt werden kann, wie die Anteile von Täter- und Opferschaft verteilt sind und gleichzeitig darauf ja auch grundlegend unterschiedliche Blickweisen möglich sind. Es kommt eben vor, dass das Opfer auch Mittäter und der Täter auch Mitopfer ist. Doch man kann auf diese Frage auch ganz anders schauen:
Wegen der Ermordung eines weißen Polizisten wurde der afroamerikanische Schriftsteller und frühere Black-Panther-Aktivist Mumia Abu-Jamal 1982 in den USA zum Tode verurteilt. Später wandelte man das Urteil in lebenslange Haft um, in der er sich bis heute befindet. Er schrieb:
„Für Menschen in paradiesischen Umständen, die genug zu essen haben, Höfe, Land, schöne Häuser, Betriebe usw. besitzen, ist es einfach, über Vergebung zu predigen. Aber ist es wirklich fair, dasselbe denjenigen zu sagen, die in höllenhaften Löchern wohnen – arbeitslos, vom Hungertod direkt bedroht, Menschen, die das Elend der Welt sind? Müssen sie den dicken, gut genährten Millionen vergeben, die ihr Verhungern entschieden haben? … Sollten sie ihnen die noch bevorstehende Unterdrückung vergeben? Den bevorstehenden Völkermord? – Herr, vergib ihnen, was sie tun, auch wenn sie und ihre Vorfahren es schon seit fünfhundert Jahren tun … Kann euer Herz einem solchen Gebet zustimmen?“
Diese Sätze weisen auf etwas Wesentliches hin – nämlich dass es eine billige Vergebung gibt, eine, die Menschen sich leisten können, ohne dass es sie etwas kostet; eine Vergebung auch, die Entscheidungen und wahrhaften Konsequenzen aus dem Weg geht.
Hier nun gilt es sich der Einsicht zu stellen, dass Vergebung jenseits von Wertneutralität liegt. Sie bedarf der Klarheit und Wahrhaftigkeit, bedarf der unbedingten Parteinahme für die Schwachen und Verletzten. Mit der Vergebung gegenüber Übeltätern und gegenüber Repräsentanten des Unrechts allein ist ja noch wenig erreicht, wenn dem keine Einsicht und kein Wandel folgen. Ohne eine klare Abgrenzung vom Übel, der Trennung von demjenigen, der Gewalt ausübt und ohne den Entzug jeglicher entsprechender Unterstützung kann es wohl nicht gehen. Alles andere hieße, das Gewalthafte selbst zu fördern. Wo klare Ent-Scheidung gefordert ist, hat ein Dazwischen keine Existenzberechtigung.
Achtsamkeit, Wachheit, Behutsamkeit und Respektierung des Gegenüber besitzen einen hohen Eigenwert. Gleichwohl führen sie stets auf Weggabelungen zu, an denen man sich gefordert sieht: um des Guten willen, um dem Gewalthaften die Kraft zu entziehen, das Lebensdienliche zu stärken und den Liebeskräften Raum zu geben – um also Entwicklung zu ermöglichen, die diesen Namen verdient.
Was aber, wenn Zuordnungen so einfach nicht herzustellen sind?
Wenn die entsprechende Klarheit sich einfach nicht einstellen mag?
Wenn sich die Fronten ständig ineinander verschieben?
Da mag es manchmal keine direkten und zeitnahen Lösungen geben; da ist es vielleicht auch für das Vergeben noch zu früh; da sind zunächst unendlich viele kommunikative Gesten aufeinander zu gefordert und die Bereitschaft, für eine Weile die Dinge gewaltfrei in der Schwebe zu halten. Nicht nur sieben mal, sondern sieben mal 77 mal, wurde gesagt.
Schließlich gilt es, bei allem Segensreichtum der Vergebung, auch ihren Schatten nicht auszublenden. Er tritt vor allem hervor, wenn die Praxis von Vergebung als ein einseitiger Akt empfunden wird, möglicherweise sogar als Machtausübung oder Anmaßung. Vielleicht wollen ein Mensch oder auch ein Volk keine Vergebung erfahren, weil sie dazu keinerlei Veranlassung und sich in keiner Schuld verfangen, möglicherweise sogar im Recht sehen. Das weist darauf hin, dass Vergebensprozesse, wenn sie heilend sein wollen, auf Zweiseitigkeit beruhen und einer Kommunikation auf Augenhöhe.
Manchmal muss auch nicht alles ausgesprochen werden. Es gibt auch die stille, nie angesprochene Vergebung. Sie heilt zumindest denjenigen, der vergibt, entlastet seine Seele und schenkt ihm wieder Gedanken- und Empfindungsfreiheit.
Zum Anhören klicken Sie bitte hier
Wenn Sie meinen Blog abonnieren möchten, klicken Sie bitte hier