Metaperspektive

ClausAllgemein

Liebe Leserin, lieber Leser,
herzlichen Dank für die kostbaren Zuschriften, die ich für meine Einladung zum Denken aus der Postapokalypse bislang erhalten habe. Bitte fühlen Sie sich weiter ermutigt. Das WIR werde ich versuchen, bis zur Weihnachtszeit zu erstellen. Vorher ist mir die „Metaperspektive“ wichtig, danach am 6. Dezember ein eigentlich unsagbares, außergewöhnliches Ereignis. Es liegt dann exakt 750 Jahre zurück und beschäftigt mich, seit ich ihm vor vielen Jahren begegnet bin.



Metaperspektive

Im Inneren der Weltwahrnehmung verfangen bleibend, ist all das Geschehen nur noch schwer zu ertragen. Hass, Gewalt, Abgrenzung, sinnlose Zerstörung und der keine Grenzen respektierende Verbrauch von Erde, Tierwelt und Natur verdunkeln nicht nur die Empfindungsseele. Sie beleidigen den menschlichen Verstand, verhöhnen Menschen- und Lebensrechte, zertreten kulturelle Entwicklung, und sie legen sich wie Blei auf die schönen Kräfte. Wieviel mehr noch gilt dies für die direkt Betroffenen, die unverschuldet Opfer werden. Täglich pressen all das Medien in unser Bewusstsein bzw. wir setzen uns dem Ton- und Bilderstrom wehrlos aus. Man kann dem nicht wirklich entkommen. Und es ist zu viel, wenn der Mensch nicht Wege findet, seine Blickweisen immer wieder zu weiten, ohne dass es ihn zu Achselzucken, Verdrängung oder Zynismus verleitet. Wie wir die Welt sehen, liegt in der Eingebundenheit in die Systeme und Lebenswelten begründet, die uns direkt umgeben bzw. die durch die medialen Botschaften konstruiert werden. All dies formt auch unsere Erwartungen, Urteile, Hoffnungen und Ängste. Jeder Mensch lebt in solchen Bewusstseinsgebilden, die sich aus persönlichen Erfahrungen und den Botschaften des multimedialen Universums formen.
Damit kann man sich bescheiden, selbstzufrieden eingenistet oder auch fortwährend sich entsetzend, wie schlimm und ungerecht doch alles sei. Beide, selbstredend mit reichlich Zwischentönen ausgestattete Lebenshaltungen, geben sich mit einer Weltdeutung zufrieden, in der Bereitschaft und der innere Impuls fehlen, über sich und über das Nah- und Ferngeschehen hinaus zu schauen. Dieses allerdings ist Voraussetzung sowohl für ein tieferes Verstehen wie auch die Entlastung von dem ansonsten nicht mehr Tragbaren.

Die eminente Herausforderung besteht darin, in den Stürmen auf unserer Lebensreise das ersehnte Land am Horizont nicht vollends aus den Augen zu verlieren. Dazu gehört, die sozialisierten Welt- und Lebensweltperspektiven um eine Vielfalt an Perspektiven zu erweitern. Den entscheidenden Schritt vollziehen wir allerdings erst, wenn wir in eine Metaperspektive eintauchen, in eine übergeordnete, evolutionäre, ja zeitlose Schau dessen, was wir als Bewegungen auf der Erde wahrnehmen. Dieser in gewisser Hinsicht unverfangene, aus einer kontemplativen Haltung geborene Blick, stellt das Wesenhafte hinter dem Tagesgeschehen heraus. Er weist auch weit über mich selber und meine Bedürfnisse. Er fügt sich in das Größere ein und wird genährt aus dem ewigen Fluss des Seins. Zudem lehrt er, das mich Bedrängende, bei allem Schrecken, aufgehoben zu sehen in einer überzeitlichen Deutung.

Als alltäglicher Wahrnehmungspraxis fällt uns die Metaperspektive nicht einfach zu. Sie will durch all unsere Eingebundenheiten, Verfangenheiten und Inanspruchnahmen hindurch ersehnt, immer wieder erprobt und schließlich errungen sein. Kontemplative Übung, die stetig neu aufgesuchte Stille, unterstützen dabei. Ja, ohne sie würde es schwerlich gelingen. Denn im inneren Universum der Stille lösen sich geistige Verkrampfungen und die Umklammerung durch Sorge, Angst und Unsicherheit auf. Gedanken werden gereinigt. Der Mensch sieht sich getragen durch eine größere Wirklichkeit. Kontemplative Weltzuwendung erleichtert es, sich in die Metaperspektive zu bewegen und dort regelmäßig aufzuhalten.

Die Metaperspektive ist kein Fluchtmobil aus der horizontalen Wirklichkeit. Das Leiden erfährt durch sie keine Relativierung. Aber sie führt vom ohnmächtigen Sich-ausgeliefert-Fühlen, vom verzehrenden Mitleiden in eine Haltung der Empathie. Darin geht es um die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz. Nähe, um zu spüren, was vor sich geht; Distanz, damit das Grauen nicht auf mich überspringt und mich neutralisiert; damit es uns nicht in die Schattenhaltungen von Hass- und Vergeltungsgedanken treibt.

Das Leiden in der Welt mag unerträglich sein. Aber es ist da, gehört zu dieser Stufe der Menschheitsentwicklung. Wer daran mitweben will, diese Stufe Schritt für Schritt zu überwinden, muss die Spannung aushalten zwischen dem Gegebenen, seiner Wahrnehmung aus einer Vogelperspektive und der Sehnsucht nach dem Land hinter dem Horizont. Alles andere würde unsere Aufbruchsenergien und Wandlungsbewegungen schwächen und nähme uns schließlich aus dem Spiel.

Was heißt das exemplarisch für den Umgang mit dem Dauerbrandherd Israel – Palästina?

Dieser Konflikt, der sich wieder einmal in aller Brutalität entlädt, kann durchaus als Mutter aller existentiellen Konfrontationen gesehen werden. Es prallen das zutiefst verständliche, historisch gewachsene und durch die Shoah auf einen Gipfelpunkt getriebene Sicherheitsbedürfnis eines religiös begründeten Staates mit den Forderungen eines gleichfalls berechtigt Anspruch auf dieses Land erhebenden Volkes aufeinander; eines Volkes, das sich nirgendwo gewollt und immer zwischen den Fronten sieht. Der Konflikt hat dramatische religiöse Dimensionen, in ihm positionieren sich gleichzeitig die großen Hegemonialmächte mit ihren geopolitischen Interessen. Letztlich aber geht es um die menschliche Sehnsucht nach Heimat, Schutz und Geborgenheit.

Wir wurden, verheerender Weise, so sozialisiert, in Interessen zu unterscheiden und entsprechend Partei zu nehmen. So teilen wir auf in Freund und Feind, in Täter und Opfer, in die Guten und in die Bösen. Gewiss, Verbrechen gegen die Menschlichkeit legen solche Zuweisungen nahe. Und zugleich müssen wir den Blick darüber hinaus erheben. Margot Friedländer, eine deutsche Holocaust-Überlebende jüdischen Glaubens, sprach gerade in diesen Tagen davon, dass es kein jüdisches, kein christliches oder islamisches Blut gebe, sondern nur das Blut von Menschen. Das meint in diesem konkreten Falle einen Bick aus der Metaperspektive zu werfen, und es weist den einzigen Weg: Auge in Auge, von Herz zu Herz, geborgen in einer die Differenzen überstrahlenden Sehnsucht nach Heimat, Ankommen und Geborgenheit sollen wir uns begegnen. Alles dafür ist gegeben. Was davon abhält, wurzelt noch in dem spätpubertären Bewusstsein des menschlichen Entwicklungsstandes und den damit auf allen Ebenen von Sein und Kultur einhergehenden Ich-Verfangenheiten. Dieses Entwicklungsniveau ist hartnäckig und gegenwärtig nicht abzustreifen. Und so scheinen wir für eine wahrhafte Transzendierung und Überwindung der Konfliktlinien noch nicht bereit. Auch das zeigt wiederum der nüchterne Blick aus übergeordneter Perspektive. Das hasserfüllte, unversöhnte und unerlöste Tun wird trotz so zahlloser Friedensbemühungen vorerst wohl weitergehen.

Dennoch…

Zum Anhören klicken Sie bitte hier
Wenn Sie meinen Blog abonnieren möchten, klicken Sie bitte hier

Das Foto habe ich am 20. November im Park an der Ilm in Weimar gemacht.