Das zweite Leben

ClausAllgemein

„Wir haben zwei Leben,
und das zweite beginnt,
wenn Du erkennst,
dass Du nur eines hast.“
(Mario de Andrade)


Manchmal sind es tiefe, in einem mystischen Weltzugang aufgestiegene Einsichten über das in Unmittelbarkeit sich öffnende und erschöpfende Leben. Einmaligkeit und Unwiderrufbarkeit erstrahlen aus jeglichem Moment. Schönheit und Würde des Erscheinens und seines Verwehens fließen ineinander – bruchlos und nur vom analysierenden Geist unterschieden. Das Leben ist Windhauch, wie der Prophet Kohelet im gleichnamigen biblischen Buch konstatiert. Alles ist nur ein Windhauch… Nichts bleibt davon ausgenommen; kein „gut“ und „böse“, kein „schön“ und „hässlich“; kein Frieden und kein Krieg; kein Baum, kein Vogel, kein Mensch.

Manchmal sind es aber auch die Windungen des Lebens, die in das Erkennen und zugleich das Erspüren der universalen Gesetze von Werden und Vergehen führen. Schwere Erkrankungen, der Tod eines nahen Menschen oder das Erahnen des eigenen nahenden Abschieds zählen in unmissverständlicher Weise dazu.
Und manchmal berührt nur die kurz aufscheinende Empfindung der Einzigkeit eines jeglichen Geschehnisses und erschüttert, ja durchbricht damit die Wahrnehmung des gleichförmig scheinenden Gangs der Dinge. Du hast nur DIESES jetzt bzw. dieses JETZT.

Werden jene unterschiedlichen Manchmals nicht nur wahrgenommen, sondern mit Körper und Seele empfunden, verstanden und integriert, beginnt das zweite Leben. Es ist Wunde und heilsamer Balsam zugleich. Zur Quelle hin geöffnet, hat es sich in den Himmel hineinvertraut.
Das zweite Leben sieht sich getragen in universaler Verbundenheit. Sorgsam und zugleich gelassen gestaltet es die Zuwendung zu den Aufmerksamkeit beanspruchenden Momenten und Anforderungen des Alltags. Achtsamkeit ist ihm eingegeben, muss nicht krampfhaft und verkopft bemüht werden. Sein Spüren kommt aus der Selbstwahrnehmung der Erscheinungen und Ereignisse, geschieht also von innen her und nicht nur über den äußeren Anschein.

Solches Erkennen schaut durch die Dinge hindurch und ist somit weitgehend immunisiert gegen die Verdinglichungen einer rationalisierten Welt und dem damit einhergehenden Verkennen des Seins.
Des Menschen Sehnsucht zeigt sich nun nicht nur entschlackt, sondern transzendiert und entsprechend gerichtet.
Zeit als das knappe, das jagende und selbst gejagte und zum Tode hin sich unerträglich verdichtende Gut weitet sich zu einer tiefen und erfüllten Wesenheit, die in jedem Moment potentiell alles enthält.

Das so verstandene zweite Leben ist Liebe und Genuss des Seins, voll Dankbarkeit für das in jedem Augenblick Gegebene – in dieser so wunderbaren und so sonderbaren Welt. Kein weiterer Sinn muss erschlossen werden.
Die Wolken ziehen anders vorüber.
Der Gesang der Amsel kommt aus dem Innenraum des großen Klangs.
Der Frühlingssturm berührt als zarte Fühlung.
Die Herbstsonne wärmt bis auf den Grund der Seele.

Im ersten Leben wird der Mensch zu oft gelebt – unverbunden mit seiner Quelle, regiert von fremden Mächten, Gesetzen und Gewalten, die ihm selbstverständlich und auch unausweichlich scheinen.
Im zweiten Leben übernimmt er selbst die Führung, dem großen Wege anvertraut und folgend. Er stimmt sich wie ein Instrument, der Klangvorstellung folgend, die in seiner Seele ruht. Klingt es dann doch anders als erhofft, sagt ihm die innere Stimme: „Es ist gut so. Das bist Du!“

Manchmal beginnt das zweite Leben erst mit dem Erwachen kurz vor jener transformativen Jenseitsbewegung, die wir Tod nennen. Das allerdings sollte dann kein Anlass zur Sentimentalität oder zum Ersticken an Selbstvorwürfen sein. Es reicht, um all die Mühen und Vergeblichkeiten in einer entfremdeten Welt, die sich selber nie wirklich verstanden hat, zu erlösen.

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