Die Phantasie reicht weit über das hinaus, was wir Wissen nennen. Sie öffnet einen an sich unendlichen Raum. Bei jedem Menschen führt er in andere Dimensionen, die mit der eigenen Erfahrung, mit Freuden und Leiden, mit Wissen und Nichtwissen, mit Ängsten und Träumen, mit Beharrung und tiefer Sehnsucht verbunden sind. Das geistige Universum der Menschheit besteht so aus unendlich vielen Unendlichkeiten. Es ist ein grenzenloser Kosmos an Schönheiten, an Schrecklichkeiten, an unerkannten Möglichkeiten, an in bunten Farben gemalten Lebenswelten, von noch nie komponierten Klängen und noch nie niedergeschriebener Poesie.
Phantasie – das geistige Labor für imaginäre Seins-Welten.
Phantasie – der innere Blick, das inwändige Sichtbarmachen des Unsichtbaren.
Phantasie – das Erschaffen einer fluiden Welt, eines Reiches, in dem Bewusstes und Unterbewusstes ineinander fließen.
In einer auf Rationalität, Nachvollziehbarkeit und Begründbarkeit reduzierten Welt hat die Phantasie es wahrlich nicht leicht. Sie in Alltagsdingen als weltfremd, ja irrational abzustempeln, ist genauso gang und gäbe, wie der Vorwurf, dass sie zielführendes Handeln blockiere. Entsprechend müssen phantasiebegabte Menschen damit leben, nicht ernst genommen, mit einem nachsichtigen Lächeln bedacht, oder manchmal auch weggesperrt zu werden.
Anders sieht das, zumindest in aufgeklärten Gesellschaften, bei Kunst und kreativer Entfaltung aus, denen kulturell per se weitgehende Entfaltungsfreiheit, ja Narrenfreiheit zugebilligt wird. Auch wenn immer neue Grenzen durch sogenannte political correctness und das politisch Wünschbare gezogen werden.
Als Phantasterei mag Phantasie aus jeglichem Realitätsbezug driften und als haltloses Hirngespinst wahrgenommen werden. Doch ihr unersetzlicher Beitrag für Kultur, Zivilisation, Kunst, Literatur, Technologie, Philosophie und Wissenschaft beweist sich darin, ein maßloses Reservoir für Ideen, geistige Entwürfe und Inspirationsquellen zu sein. Für zu ihr hin sich öffnende und sich in sie hineinbewegende Menschen schafft sie zudem einen Raum, die eigenen Potentiale, ja sich selbst zu erkunden und besser zu verstehen. Vernunftgemäße Biederkeit und der Tanz im eigenen Möglichkeitswesen bewegen sich aufeinander zu. Und je härter, unversöhnlicher und lebensfeindlicher die sozialen und natürlichen Umwelten werden, desto notwendiger, ja unersetzlicher wird diese sich bildende Symbiose. Sie hebt im Einzelnen nicht nur die Trennung der Phantasie von der Wirklichkeit partiell auf, schafft vielmehr durch Verschmelzung eine neue.
Phantasie schwelgt in Bildern und Metaphern. Ihre Art zu denken ist anschaulich und exemplarisch. Zudem „denkt“ sie mit Gefühl und einer unerschöpflichen Sehnsuchtsenergie. Das von ihr geschaffene Land, in der „Unendlichen Geschichte“ von Michael Ende „Phantásien“ genannt, ist zwar ein Innenweltkontinent, aber als seelischer Aufenthaltsort manchmal durchaus nicht weniger Heimat als die sogenannte äußere Realität. Damit vermögen sich auch die Körperwahrnehmungen zu wandeln. Das Geistig-Seelische, Traumweltlerische und vom Gefühl Bestimmte übernehmen die Führung. Sie verführen im besten Falle zu einer Leichtigkeit, welche die Füße auf dem Asphalt der Nüchternheit nie erreichen können. Das wiederum ist ihnen nur möglich, weil sie nichts Abgespaltenes, nichts wesenhaft Fremdes sind, sondern meinem Identitätsbewusstsein Zugehöriges; zugehörig als das Verfeinerte, Veredelte – also als das, was unser Leben so unvergleichlich anreichert.
Die Phantasie, so sagt man, verleihe Flügel. Sie beschwingt, lässt für eine Weile schweben. Und manchmal wird sie zu den Flügeln des Phönix, die aus der Asche eines beschädigten Lebens empor heben.
Es mögen dabei zunächst vor allem die eigenen Wünsche, Träume, Bedürfnisse und Ideale sein, die dem phantastischen Denken die Richtung vorgeben. Sie führen es zu einer Gestalt, die über die als defizitär empfundene Realexistenz hinauswächst. Doch jeder Mensch wäre grundsätzlich auch in der Lage, seine Phantasie aus dem Feld-Bewusstsein des Wir, eines Kollektivs, ja der Menschheit oder gar des Lebens an sich und dessen Bedürfnissen schweifen zu lassen. Was könnte daraus entstehen! Und was noch ungleich mehr, wenn Menschengruppen sich in „Phantasiewerkstätten“ zusammenfinden und gemeinsam neue Welten entwerfen, die nach Verwirklichung über das rein Geistige hinaus drängen; und die sich nicht von einem voreiligen, noch ganz der alten Welt geschuldeten „Für und Wider“ permanent ausbremsen lassen.
Wir müssen uns als Kinder des Universums, als Geschöpfe des absoluten Geistes jener Phantasie würdig erweisen, die in Worten nicht zu umschreiben und gedanklich nicht zu fassen dem Kosmos zugrunde liegt und ihn durchzieht; diesem gigantischen Tanz der Galaxien und Gestirne; der Schönheit, Erhabenheit und Gestaltung in einem perfekten und zugleich wilden Ebenmaß.
Aus der Phantasie erwachsen Weltentwürfe in jegliche Richtung. Sie ist überlebenswichtig und wird es zunehmend in Zeiten, in denen man sich genötigt zu sehen glaubt, den durch Raubbau und Bürokratengeist selbst verschuldeten Mangel an Naturhaftigkeit und Vielfalt noch irgendwie zu verwalten. Deshalb auch lasst den Kindern ihre Phantasie. Unterstützt sie dabei, etwas über die Domestizierung der Wahrnehmung und des Geistes, die durch Schule, Ausbildung und Konsum stattfindet, hinaus zu bewahren, ja weiterzuentwickeln.
Die Grenze zwischen einer Welt, die sich im Geistraum Phantasiens selbst entworfen hat und dem, was wir als Realität wahrnehmen, bleibt letztlich unüberbrückbar. Aber wie trostlos und perspektivlos wäre das Sein ohne die Farben und den Glanz, die verzaubernd und verwandelnd hinüberstrahlen aus dem Reich des Denkbaren und auch ohne den Klangbogen, der uns berührt und in Resonanz hält.
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Foto: Miniskulptur „Himmelsgucker“ auf dem Altar der St. Willehad Kirche auf Wangerooge, gemacht am 11. September 2024