Es ist dieser Zeit mit den sie charakterisierenden Polarisierungen und Popularisierungen eigen, in Bezug auf Kulturen oder politische Systeme von überlegen oder unterlegen zu sprechen. In der Folge gehen kultursensible Betrachtungsweisen schnell verloren; und mit ihnen die entsprechenden Besonderheiten, Feinheiten und vor allem historischen Gewordenheiten . Manchmal fallen sie gar aus dem Bewusstsein in ein Niemandsland. Von dort ist es schwer, sie wieder zurück in die rechte Wahrnehmung zu holen. Diese Erschwernis nimmt spürbar zu, je mehr die Aufmerksamkeit der nachrückenden Generationen von Beliebigkeits- und Flüchtigkeitsmedien aufgesaugt wird. Der Zukunft wird damit ein gediegenes Fundament von Betrachtung und Beurteilung sowie für Anschlussentwicklung geraubt. Irgendwann wissen die Menschen eines kulturellen Raumes nicht mehr, woher sie kommen.
Es geht nicht um „überlegen“ oder „unterlegen“. Entscheidend ist das, was hervorragt, was einen wertvollen Beitrag leistet zur Entwicklung menschlicher Kultur. Da stehen, ohne eurozentrisch verblendet zu sein, Europa und der europäische Geist in einem ganz eigenen Licht. Bei allen Schattenseiten, die der geistigen, wissenschaftlichen, technologischen und politischen Entwicklung immer zugleich mitgegeben sind; und bei allen Außerordentlichkeiten, die andere Kulturräume auf der Habenseite verbuchen können.
Über die Schattenseiten des „Westens“ wird in dem gegenwärtigen politisch- kulturellen Klima in auffallender Intensität fabuliert. Der Weltenraum der alten weißen Männer, die Kolonialismus, Patriarchat, Kapitalismus, Ressourcenzerstörung etc. zu verantworten haben, steht im Fokus. Das hat in gewissen Dimensionen sicher sein Recht, beschreibt historische Wahrheiten. Wäre da nicht die damit einhergehende arrogante und oft erschreckend ungebildete Verallgemeinerung. Sie verbindet sich mit den blinden Flecken bei denjenigen, die sich selbstgerecht echauffieren und als „Opfer“ stilisieren, ohne selbst direkt betroffen zu sein.
Wir leben nicht nur auf dem Boden, der den Nationalsozialismus zu verantworten hat, die Shoah, den Konsumismus, die Schändung der Natur und die ökonomische Ausnutzung so mancher Kulturen. Dem sogenannten Westen verdanken wir gleichzeitig die Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, erhabene geistige Universen, die moderne Medizin und eine aufgeklärte Wissenschaft. In ihm hat sich schließlich auch eine Religion entwickelt, die nicht in mittelalterlicher Versklavung und entsprechenden Weltbildern hängengeblieben ist.
Wir haben Wahnsinniges durchlebt, verschuldet und durchlitten…
Wir haben uns großartige geistige Höhenflüge, technologische Außerordentlichkeiten und Sensationen des Kunstschaffens, vor allem in Musik und Literatur, geschenkt…
Und nicht weniger wichtig: Wir haben das alles reflektiert. Stück für Stück sind wir so weitergekommen in dem oft mühseligen und unerträglich anmutenden Ringen zwischen Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus, Populismus, Modernismus, lauwarmer Biederkeit und welchen anderen Orientierungen auch immer, denen ein aufgeklärtes Gemeinschaftssystem Raum gibt. Aber es gibt ihnen Raum!
Der Westen und die abendländische Kultur sind nicht, wie so oft beschworen, im Grundsatz gescheitert. Solche Wunschgedanken tragen ja ausgerechnet Jene mit Pathos vor, hinter denen bei genauem Hinsehen eine düstere Ideologie steht. Sie verhöhnt Vernunft, eine Freiheit in Verantwortung, das angemessene Maß und Mitmenschlichkeit. Ja, sie negiert schlichtweg die Regeln zivilisatorischen, anspruchsvollen Miteinander-Unterwegsseins.
Gewiss, es sind neue globale Machtachsen entstanden. Mehr und mehr nehmen sie Europa den Stift aus der Hand. Sie können dies, weil ihre Machteliten monolithisch-totalitär agieren, ohne Widerspruch zuzulassen und ohne westlich „dekadent“ in Diskursen zu ringen.
Wirklich Scheitern kann das abendländische Kulturprojekt nur, wenn es selber seine höchsten Werte in Frage stellt und wenn es seine Bekämpfung von Innen zulässt. Das geschieht vor allem durch die Ausbreitung eines Geistes, der etwa das Erbe von Aristoteles, des Jesus von Nazareth, von Thomas, Erasmus, Kant, Rousseau, Goethe, Camus, Arendt und Albert Schweitzer verhöhnt, gleichwohl ohne es zu kennen. Dafür stehen etwa unterschiedlichste Parallelgesellschaften in unseren Ländern, die in einem vorzivilisatorischen Denken und Empfinden verharren. Dafür stehen auch Jene, die nicht nur missionarisch alles integrieren wollen, sondern auch beliebigen Minderheiten-Strömungen zu einer völlig unangemessenen Wortmacht in willfährigen Medien verhelfen. Gegenargumente sowie Gegenempfindungen stigmatisieren sie als sexistisch, rassistisch, neokolonialistisch oder was auch immer gerade en vogue ist im Cancel-Culture-Karussell.
Es lässt sich nicht alles integrieren. Kaum mehr an Banalität könnte ausgesprochen werden. An sich ginge das wohl, würde die Liebe Unvereinbares immer wieder neu verbinden. Aber so unendlich Viele leben nicht für die Liebe, wollen keine Liebe hervorrufen, kommen nicht aus Liebe hierher. Sie betonen Eigensein, entsprechende Abgrenzung und oft genug auch Hass. So wird das Wasser trübe, bzw. es entsteht eine völlig neue, vergiftete Melange von Unvereinbarem.
Was wir „Den Westen“ nennen, trägt in seinem kulturellen Reichtum noch immer außergewöhnliche Potentiale und auch eine außergewöhnliche Berufung in sich. Dafür stehen die durchgestandenen Kämpfe; das Fallen und wieder Aufstehen im Angesicht einer im Hintergrund strahlenden Schönheit unzähliger Hervorbringungen. Sie bergen im Geistes- und dem Erfahrungs-Universum, was nicht neu entwickelt werden muss. Darin liegt eine eigene, verheißende Erzählung geborgen. Sie weist weit in die Zukunft hinein. Nicht, um Anderes zu verdrängen, sondern um die uns mögliche Größe zu erschaffen! Aber man muss an diese Erzählung glauben, sie für sich selber verinnerlichen, in das Alltagsleben integrieren und vorangehen.
Unser westliches Kultur-Haus braucht bei aller Toleranz klare Regeln und Verfahren, damit kein Missbrauch von denen stattfindet, die es an sich ablehnen, sich gleichzeitig aber durch seine Attraktivität, Großzügigkeit und Freiheit angezogen fühlen. Im Innen wie von Außen. Schließlich hat jeder Kulturraum das Recht auf Tradition, Vertrautheit und Geborgenheit, auch wenn diese immer wieder neu errungen und verhandelt werden wollen. Darüberhinaus gilt ohne Einschränkungen der Grundsatz, nie mehr hinter das zurück zu fallen, was einmal im lebensdienlichen Sinne als gut und richtig erkannt worden ist. Sei der Preis auch hoch. In alter Sprache nannte man das Tapferkeit.
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