Anders ist normal… Kontingenz

ClausAllgemein

Ein wenig Scheu empfinde ich schon, über die vielleicht größte Selbstverständlichkeit innerhalb der menschlichen Existenz etwas niederzuschreiben. Das Abgleiten in die Banalität ist schnell passiert.
 
Es geht um die grundsätzliche Offenheit und Ungewissheit unserer Seinserfahrungen. Legionen von Philosophen, Theologen, Psychologen und Soziologen haben sich darüber ausgelassen, oft in epischer Breite. Doch alle Reflexionen über das, was Kontingenz genannt wird, verdichten sich letztendlich in den Aussagen:
Das Bestehende, so wie es sich uns zeigt, ist keinesfalls notwendig.
Alles könnte auch anders sein und manches sowohl „falsch“ als auch „richtig“.
Zufälle, bzw. Nichtvorhersehbares oder Ableitbares, intervenieren in Entwicklung und wirken richtungsweisend.
Als gesetzlich angesehene Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in der menschlichen Geschichte können jederzeit gebrochen werden.

Mit wachsender Größe, zunehmender Differenzierung und abnehmender Überschaubarkeit steigert sich das, was wir Komplexität nennen. Und mit ihr wächst die Wahrscheinlichkeit von Kontingenzerfahrungen. Beide hängen untrennbar zusammen. Da es jedoch für Menschen, Systeme und Kulturen nichts Unerträglicheres zu geben scheint als fehlende Berechen- und Planbarkeit, existiert seit jeher das Ansinnen, beide in Strukturen einzufangen und sie durch verbindliche Regeln und Ordnungen zu fesseln. Das jederzeit Mögliche sowie Ordnungs- bzw. Verlässlichkeitserwartungen stehen sich nun in einer Spannung gegenüber, die durch nichts aufzulösen ist. Auch durch nackten Pragmatismus kann sie immer nur kurzfristig überdeckt werden.
Da scheint nach dem Schock der Finanzkrise gut 10 Jahre später wieder alles im Griff, die Wirtschaft wächst, die Staatsfinanzen sind geordnet, und die Menschen wirken überwiegend zufrieden. Doch auf einmal schaut wie aus dem Nichts Covid 19 um die Ecke, und alles ist in kürzester Zeit anders. Weltweit. Jetzt setzt kollektiv eine Erfahrung ein, die jede Frau und jeder Mann und jedes Kind von Geburt an lernt, nämlich dass da wenig sei,woran man sich wirklich halten kann.

Selbst die Vernunft erleidet einen akuten Schwächeanfall, zumindest jene herrschende und selbstherrliche Vernunft, die alles daraus ableitet und darauf bezieht, dass das Geschehen in der Welt allein von uns und unserer Denkmächtigkeit abhinge. Die mit dem Erkennen dieser Fehleinschätzung einhergehende narzisstische Kränkung will erst einmal verarbeitet sein.

Ein Reflex auf das durch Kontingenzerfahrung ausgelöste Erschrecken führt Menschen in den Ruf nach Transzendenz. Doch Vorsicht: Nirgendwo ist Kontingenz stärker beheimatet als im Raum des Numinosen. Spätestens wenn die Frage auftaucht, wie eine liebende und zugleich allmächtige Gottheit all das Desaster auf der Erde zulassen könne, bricht auch hier Sicherheitsbewusstsein weg. Wer also Halt sucht, sollte sich nicht an vordergründige Heilserwartungen klammern. Nicht zuletzt die Bibel kann in ihren Weisheitsschriften als das Standardwerk menschlicher Kontingenzerfahrung betrachtet werden. Denken wir etwa nur an Hiob oder Kohelet. Und sowohl Jesus als auch Buddha mahnen zur bedingungslosen Kontingenzbereitschaft durch Wachheit und Achtsamkeit. Irritation durch Unvorhergesehenes dient dabei als wohl beste Lehrmeisterin.

Gilt es also, die scheinbare „Unordnung“ von Welt und Sein einfach so hinzunehmen bzw. sie allenfalls als Teil einer unsichtbar verbleibenden Ordnung zu sehen?
Gewiss – und trotzdem liegt auch hier ein möglicher Segen in der inneren Haltung. Es ist jene Haltung, die in Unberechenbarkeit keinen Fluch sieht, sondern den Gang der Dinge. Alles lerne ich dann zu betrachten im Horizont eines möglichen Andersseins. Ich übe mich in Hingabe, was Offenheit und Demut gegenüber dem Unerkennbaren und Unberechenbaren betrifft. Wenn der Mensch in der Kontingenz fließt, er sie als seinen Lebensfluss erkennt und anerkennt, dann wird uns die Wirklichkeit trotzdem zwar immer wieder mit Überraschungen konfrontieren. Aber wir vermögen sie als Ausdruck der unendlichen Vielfalt eines schöpferischen Universums zu respektieren und zu schätzen und als einen Reichtum, in dessen Mitte wir uns bewegen.
Um so mehr kann ich dann auch jede vorübergehend gegebene Stabilität und Bewahrung als ein umso größeres Geschenk erkennen – etwa in Fragen der Gesundheit, jener vielleicht am Stärksten kontingenzgeplagten Hoffnungsweise des Menschen.

Welt, so wie sie ist, verdankt sich Unberechenbarkeit.
Vielleicht ließe sich sogar sagen: Ein anderer Name für das, was wir mit Kontingenz meinen, ist Evolution….

Wir wissen nicht, was wir verbringen:
siehe, Benanntes ist vorbei und jedes Sein
erfindet sich im letzten Augenblick
und will nichts hören.  
Wink von Zeichen, kaum ein Blatt verkehrts:
wir aber sind schon anders,
verleugnen, lächeln,
kennen schon nicht mehr,
was gestern Glück war.
Und die Göttin selbst schwankt über uns.
(Rainer Maria Rilke)

Mein nächster Beitrag erscheint vermutlich erst in zwei Wochen. Dazwischen liegen ein paar Tage Meer, Nordsee…

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