Darf es etwas weniger sein?

ClausAllgemein

Darf es etwas weniger sein?

Die Menschheit braucht nicht nur technische Entwicklungen um ihrer eigenen Entwicklung willen. Für eine humane und mit der Erde versöhnte Zukunft benötigt sie sogar noch mehr Erfindergeist und eine noch höhere Entwicklungsgeschwindigkeit als bisher. Ohne neue, sanfte und saubere Technologien in großem Maßstab wird es nahezu unmöglich sein, der ökologischen, technologischen und ökonomischen Krisen auch nur in Ansätzen Herr zu werden. Zuvor jedoch werden wir endlich lernen müssen, Technik neu zu sehen, zu verstehen, ja zu empfinden. Und das setzt voraus, auf all jene Errungenschaften konsequent zu verzichten, die sich als lebensfeindlich erwiesen haben. Dabei geht es nicht nur um die technischen und ökonomischen Strukturen, sondern vor allem auch um die Haltung des blinden Konsums ihrer Produkte, die in nahezu jedem von uns lebt.

Ein Ethos, das die technische Entwicklung an ihre Konvivialität, also Lebensfreundlichkeit bindet, wird wesenhaft davon bestimmt sein, vorausschauend und alle Folgen mit bedenkend zu wirken. Schaden soll also nicht repariert werden müssen, sondern er soll durch Vorausschau verhindert werden. Nutzen will nicht erst nach der Erfindung gesucht und geschaffen, sondern bereits in die Entwicklung hineingedacht werden. Und es soll ein Nutzen sein, der dem Wohl der Erde und ihrer wunderbaren Vielfalt genauso dient wie dem integralen Wachstum der Menschheit.

Am Anfang dieses Prozesses steht die Frage, was wir eingedenk der großen Menschheitsziele und der Lebensnotwendigkeiten überhaupt können sollen. Nehmen wir diese Frage ernst, dann sind voreilige technologische Eingriffe in Zusammenhänge des Lebens solange tabuisiert, wie sie nicht in ihren Konsequenzen verstanden wurden. Der ungestüm, „optimistisch“ und hinsichtlich der Folgen oft so blind und lebensverachtend vorandrängende Erfindergeist sieht sich damit zu einer Haltung der Skepsis und des Zweifels, der Umsicht und Rücksicht und einer positiven, intuitiven Vorsicht ermahnt, ja verführt.

Es geht also um eine Präventivethik. Sie lässt Platz für das noch immer Unbegreifliche der Schöpfung und für das Staunen ob ihrer Erhabenheit. Zwangsläufig mündet sie in eine Ethik der kollektiven und personalen Begrenzung. Sich mit dem bescheiden, was überschaubar, verstehbar und beherrschbar ist, steht im Vordergrund; sich auf das begrenzen, was in die ökologischen und die sozialen Systeme nicht zerstörend, sondern stützend eingreift; sich also auf das ausrichten, was dem Leben dient, was wir gestalten können, ohne anderes zu belasten.

Was nun meint „Konvivialität“ von Technik konkret?

Als oberster Grundsatz steht Beherrschbarkeit. Sie ist gegeben, wenn technische Systeme auch wirklich verstanden wurden und ihre Abläufe bis ins Detail transparent sind. Dazu gehört Fehlerfreundlichkeit, die vorliegt, wenn durch technisches oder menschliches Versagen hervorgerufene Störungen nicht gleich zu größeren Systemzusammenbrüchen und Katastrophen führen. Als weiterer Grundsatz kann Reversibilität gelten. Angesichts der basalen Erfahrung, dass Menschen irren können, müssen einmal entwickelte technische Systeme rückholbar, rückbaubar sein. Das aber ist nur dann denkbar, wenn sie mit der technischen Infrastruktur insgesamt sowie den politischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten nicht schon so verwoben sind, dass sich daraus neue feste Strukturen ergeben haben. Strukturoffenheit schließlich stellt in diesem Sinne sicher, dass technische Entwicklungen nicht alternativlos sind, also nicht in technologische Einbahnstraßen, ohne die Möglichkeit abzubiegen, führen.

All dies benötigt Zeit, um vertraut damit zu werden. Die für die Entwicklung und Erprobung neuer technischer Systeme erforderlichen Zeit-Spielräume müssen an die Geschwindigkeit sozialer Entwicklungen und der gesellschaftlichen Lernfähigkeit angepasst sein. Reflexivität und die notwendigen Gestaltungsspielräume dürfen nicht dadurch eingeschränkt werden, dass neue Technologien normalerweise sofort zu hohen Anpassungszwängen von Mensch und Natur führen. Nur dann brechen wir auch mit dem absurden Geist, der allein in der immer schnelleren Veränderung Kontinuität und Stabilität sieht. Nur dann lösen wir auch in der Folge jene Selbstverständlichkeiten auf, mit der Wettbewerbszwang, Profitmaximierung und Produktivitätsfortschritt als die tragenden Säulen des Wirtschafts- und Technosystems respektiert und geduldet werden.
Im Letzten sind wir mit der Herausforderung konfrontiert, auch das Wirtschaften selbst neu erfinden zu müssen – aus einer kompetitiven in eine kooperative Kultur.