Alles was Odem hat …

ClausAllgemein

Ein Frühlingstag. Es mag 1954 oder 1955 gewesen sein. Unruhig vertrieb ich mir die Zeit auf dem Hof vor der Schule, in der meine Eltern, meine Schwester und ich wohnten. Mein Vater war Lehrer in dem kleinen oberhessischen Dorf. Besuch hatte sich angekündigt, der irgendwann zum Sonntags-Kaffee kommen wollte. Verwandte aus dem Oldenburger Land. Sie hatten einen großen Bauernhof, dort, wohin der Krieg nicht direkt gekommen war. In meinem kindlichen Verständnis mussten sie reich sein, denn mein Vater hatte erzählt, dass sie einen Opel Kapitän fahren. In unserem ganzen Dorf gab es damals nur zwei Autos, Volkswagen Käfer, noch mit geteilter Heckscheibe. So lief ich an der Straße auf und ab, setzte mich mal auf die Steinmauer, spielte kurz mit dem Schäferhund des Hausmeisters, der zwar Bösdörfer hieß, aber lieb und freundlich war; rannte zurück zur Straße, und dann passierte es: Ich bemerkte das erste mal in meinem kurzen Leben, dass ich atme. Schlimmer noch: Mir wurde bewusst, wirklich bewusst, das ich atmen muss. Es war ein bedrängendes Gefühl, wie eingesperrt werden, wie vollkommen hilflos sein. Wütend hörte ich auf zu atmen, was mich noch ohnmächtiger machte. Ich dachte, jetzt musst du sterben. Alles war so eng. In dem Moment bog ein großer dunkelblauer Wagen von der Hauptstraße, die nach Fulda führt, in die Schulstraße ein. Es war ein Opel Kapitän. Überall silbern glänzendes Chrom.

Diese erste Begegnung mit dem Atem hat sich in mein Gedächtnis und in meine Empfindung eingebrannt. Für den vier- bis fünfjährigen Jungen war die Einsicht in die Überlebensnotwendigkeit des Atmens Angst einflößend und bedrohlich. Seitdem hat mich die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung des Atems und des Atmens nie wieder losgelassen.

So weit die Vorgeschichte. Als eine anekdotische Antwort darauf, warum man sich über das Selbstverständlichste überhaupt immer wieder Gedanken macht.

Sortieren wir etwas.

Medizinisch-anthropologisch stellt sich die Atmung als „das Ergebnis einer koordinierten Muskeltätigkeit dar, die zum Heben und Senken des Thorax (Brustatmung) und des Zwerchfells (Bauchatmung) führt.“ (Lexikonwissen) Der so entstehende Atemstrom führt zum Gasaustausch Luft in die Lunge. Sauerstoff wird zugeführt, Kohlendioxyd wird abgegeben.

Religiös betrachtet, schenkt Gott den Atem als Lebenskraft. „Nimmst du ihren Odem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub.“ (Psalm 104, 29)
In vielen Kulturen steht der Atem synonym mit Geist, Gottes Geist. Von Atman oder Prana spricht etwa der Hinduismus, Ruach, der Gotteswind, formuliert das Hebräische, Ruh der Islam. Das griechische Pneuma schließlich meint göttlicher Geist, aber auch Windhauch und wird mit feuriger Substanz in Verbindung gebracht.

Wie auch immer  …

Wenn wir uns bewusst und achtsam auf den Atem einlassen, werden wir spüren, wie er trägt – empfangend, freigebend, lassend. Jeder Atemzug steht dabei symbolisch für das ganze Sein. Du atmest das Leben ein – und ausatmend gibst du es hin…
Wer das verstanden hat, kann jederzeit neu in das Sein eintauchen, gleich auch, was war. So wird der Atem zur tiefsten Form des Gebets. Fortwährend sprechen wir es in den Strom des Lebens, aus dem es entstammt.

Das Atmen ist Gebet
Empfangen
Geben
So steht das Atmen
Für das Leben
Das einatmend kommt
Und ausatmend geht.

Das bewusste Atmen befreit für einen Augenblick von Erinnerungen.
Pläne, Ängste, Sorgen liegen nicht mehr im Feld des Spürens.
Im inneren Raum, dem Gebetsraum des Menschen, feiert das Leben so Advent und Weihnacht zugleich.
Es herrscht kein Mangel.
Alles ist da.
Die Zeit ist erfüllt.

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Die Urheberschaft für das Bild, das ich abfotografiert und farblich leicht intensiviert habe, ist mir leider unbekannt.