Personale und kollektive Dimensionen des Bösen

ClausAllgemein

Wenn wir das Böse als Kontrapunkt zum Guten sehen, als seine polare Ergänzung, so liegt darin zwar eine Wahrheit, doch zugleich greift dieses Bild zu kurz. Beide trennt nicht nur die innere Ausrichtung und handlungsbezogene Orientierung, sondern ein elementarer Wesenszug.

Im Gegensatz zum Guten, Lebensdienlichen, das Sein und Werden Fördernde, vermag das Böse aus sich selbst heraus nichts von Bestand zu schaffen. Es lebt davon, sich gegen etwas Bestehendes zu wenden. Sein Antrieb ist die Destruktion, die Spaltung, die Schädigung, die Vernichtung. Aus der bloßen Verneinung kann deshalb nichts ins Werden treten. Sie bedarf des Gewordenen, des bereits Existierenden. Sie benötigt einen Bezugspunkt in dem, was ist. So können wir das Böse als etwas Abgeleitetes, Relatives sehen. Es ist reaktiv an sich und somit niemals autonom.

Wer über das Böse spricht, denkt vermutlich zunächst an Personen, in denen es einen Ausdruck findet. Kollektive Aspekte treten dann leicht in den Hintergrund. Dabei sind sie es gerade, die für seine Wirkung und sein Verständnis eine maßgebliche Bedeutung tragen. Im kollektiven Bewusstsein, aber auch im kollektiven Unbewussten, hat das Böse eine unbegrenzte, oft nur schwer zu erspürende und zu identifizierende Heimstatt. Von hier aus kann es die einzelnen Menschen infizieren. Es macht sie zu Tätern und/oder führt sie in eine Haltung sich wegduckender Hinnahme. Sie begehrt gegen das Unrecht nicht auf bzw.  verleugnet oder verharmlost es.

Im Rassismus und in religiösen/ideologischen Verblendungen findet der kollektive Schatten als Massenwahn seine vielleicht brutalste und ausuferndste Ausprägung. Oft wendet sich dabei das Mittelmäßige und Banale, das selbstverschuldet Unmündige, ja oft Verdummte gegen das Andere, Besondere. Damit es hier zu keinem falsches Verständnis kommt: Das ist keine Frage des Intelligenzquotienten und auch nur bedingt eine Frage der Bildung. Es geht um das ignorierte bzw. missachtete Humanum, das an sich in jedem Menschen ruht und das zu spüren und ins Leben zu überführen jeder Person zugewiesen ist, die sich dem Menschlichen zugehörig fühlt.

Im Kollektivwahn findet der Einzelne die Möglichkeit, die in ihm latent hausenden Furchtbarkeiten zu leben und sich zugleich der Verantwortung zu entziehen, indem er auf den kollektiven/auch staatlichen Geist verweist. Über diese beschämende Haltung geben u.a. die Prozesse zur Aufarbeitung der Verbrechen von Unrechtssystemen Aufschluss. Seitens der Täter und ihrer Verteidiger wurde hier nur zu oft darauf verwiesen, dass keine Eigeninitiative, sondern übergeordnete Befehle und ein übergeordnetes Staatsverständnis Anlass der persönlichen Untaten waren. Hannah Arendt, die 1961 als Journalistin den Eichmann-Prozess in Jerusalem verfolgte, schrieb über diese Flucht aus der Verantwortung: „Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.“

Ein spezifisches Kennzeichen des Kollektivwahns liegt in der Wankelmütigkeit und Unberechenbarkeit der Massen. Davon kündet in bewegender Dramatik die Passion Jesu. Beim Einzug in Jerusalem noch begeistert empfangen, kippt die Stimmung abrupt. Jäh breiten sich Hass, Angst, Verleumdung und Verleugnung aus und erfassen auch die engsten Gefolgsleute des Nazareners. „Mimetische Ansteckung“ nennt der französische Religionswissenschaftler René Girard (1923 – 2015) diesen Vorgang, der uns immer wieder auch in revolutionären Situationen und anarchischen Zuständen begegnet. Wie ein Virus verbreiten sich negative Emotionen über ganze Länder. Fast schlagartig stellt sich Einmütigkeit in Gruppen her, die sich gegen Einzelne oder gegen Minderheiten richtet, die pauschal zum Sündenbock für alles Störende gemacht werden. Nicht nur persönliche und kollektive Selbstreflexion werden dabei systematisch ausgeschaltet; es herrschen auch Denk-, Empfindungs- und Sprachverbote. Herausragendes Exempel für das Resonanzphänomen der mimetischen Ansteckung sind alle Formen von Lynchjustiz und aktuell der viralen Verbreitung von Hass und Hetze und von Cancel Culture in den digitalen Hasskanälen, die sich groteskerweise auch noch „soziale Medien“ nennen.

Richtet sich der Unmut von Bevölkerungsgruppen erst einmal auf andere Gruppierungen oder eine Person aus und steigert er sich in der mimetischen Ansteckung und Aufpeitschung zur Raserei, dann kann eine solche Kollektivemotion nicht mehr gesteuert, geschweige denn zur Vernunft gebracht werden. Im mimetischen Furor werden Massen momenthaft ihres Bewusstseins und ihrer moralischen Integrität beraubt – was mit der Versuchung Einzelner in diesem Maße nie hätte gelingen können. Die kleinen und großen Volksverführer im Verlauf der menschlichen Geschichte bedienten sich genau dieses kollektiven Mechanismus humanistischer Selbstaufgabe. Und auch manche moderne Populisten spielen auf der Klaviatur der Entmündigung und des Verderbens.

Der spontan entfesselte Hass von Kollektiven kann sich zu einem Muster verstetigen und zu einer Hasskultur auswachsen. In Gruppen tradiert, wird sie von Generation zu Generation weitergegeben. Genozide, terroristische Akte, systematische Verfolgung und Unterdrückung liegen auf der Blutspur dieser latenten Gewaltbereitschaft. In sie hinein wird der einzelne Mensch früh sozialisiert. Er erhält gleichsam eine sozialgenetische Prägung, die auf der Freiheit seines Denkens, Empfindens und Handelns lastet bzw. sie verklebt. Hassbezogene Erinnerungskulturen und Rituale, die an die Instinktenergie Einzelner und von Gruppen appellieren, wirken dabei als Prozesstreiber.

Wir müssen wohl akzeptieren, dass solch destruktive, düstere Feldenergie die Entwicklungsstufe des gegenwärtigen Menschseins durchzieht; in großer Breite, wenn auch auf kulturell unterschiedlichen und sich nicht selten zivilisiert maskierenden Niveaus. Dass nur die liebende Zuwendung zur Welt, bei gleichzeitig höchster Klarheit und Entschiedenheit, was die Abkehr von Lebensschädlichem betrifft, dem dauerhaft etwas entgegenzusetzen vermögen, scheint eine Binsenweisheit. Doch auch diese liebende Zuwendungsregung wird zunächst einmal den Härtetest in jedem von uns und in den kulturellen Milieus, in denen wir sozialisiert sind und uns aufhalten, bestehen müssen. Denn es ist nicht auszuschließen, dass gerade die Träger des „Bösen“ und Lebensfeindlichen sich in ihrem Selbstverständnis und dem ihrer „Follower“ als Heilsbringer sehen und entsprechend stilisieren.

Illustration: Jan Rieckhoff
http://www.illurieckhoff.de

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Noch ein Hinweis
https://bonifatiuskloster.de/de/node/520

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